Stefan Meretz (Juli 2001: Version 1.0)

Freie Software - 20 Thesen für eine andere Gesellschaft

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Originalquelle: http://www.kritische-informatik.de/fsthesl.htm

Ein open-theory-Projekt: http://www.opentheory.org/fs-thesen

Die Thesen erschienen in Ausgabe 4/01 (Heft 120) der »spw - Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft«.

Lizenz: GNU Free Documentation License Version 1.1, http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html

1. Denken. Die Freie Software denken, heißt jenseits der Marktwirtschaft denken.

Das Denken in Arbeit, Geld und Markt ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Freie Software ist darin nicht verstehbar. So erscheint unverständlich, dass Menschen etwas freiwillig tun ohne Geld dafür zu verlangen - von wem auch; dass die Hacker tun und lassen was sie wollen - und es kommt trotzdem etwas dabei heraus; dass sich jede/r Freie Software einfach nehmen kann - wo kommen wir denn da hin. Alle Versuche, diese Produktionsweise im Warenparadigma erklären so wollen, scheitern. Die Hypothese von der "Aufmerksamkeits-Ökonomie" wird nicht der letzte krampfhafte Versuch sein.

2. Historie. Freie Software kommt aus der Wissenschaft.

Ende der Fünfziger waren die USA geschockt: Die UdSSR spottete per Sputnik aus dem All. Keynes musste ran: Mit Hilfe eines Programms zur Forschungsförderung sollte der imaginierte und der wirkliche (militär-) technologische Rückstand aufgeholt werden. Heraus kamen nicht nur das Betriebssystem Unix und das Internet, doch diese beiden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung waren Voraussetzung für die Entstehung Freier Software.

3. Wissenschaft. Der Proprietär zersetzt die Wissenschaft.

Der wissenschaftliche Prozess lebt vom freien Austausch der Informationen, vom gesellschaftlichen Akkumulieren des Wissens. Wissenschaft ist damit nicht marktgängig. Marktgängig sind nur Produkte, die knapp sind. Die verknappte Form gesellschaftlichen Wissens in Softwareform ist die proprietäre Software. Das ist Software, die einem Eigentümer gehört und anderen nicht. Proprietäres Denken ist Standort-Denken. Jede Restriktion der gesellschaftlichen Wissensakkumulation ist standortlogisch funktional, doch systemlogisch dysfunktional. Aber das will keine/r mehr hören. Wenn einer im Kino aufsteht, sieht der gut. Wenn alle...

4. Freiheit. Freiheit gibt es nur dort, wo Unfreiheit herrscht.

Der Begriff der Freien Software entstand erst mit der Exklusivierung gesellschaftlichen Softwarewissens. In heutiger Perspektive kann man natürlich auch sagen: Früher gab es nur freie Software. Damals machte das keinen Sinn. Aus der freien Software wurde Freie Software, weil unfreie, proprietäre Software entstand. Es war ein Akt der Verteidigung gegen die Einfriedung der Software-Allmende.

5. Geniestreich Nr. 1. Aus Copyright wird Copyleft.

AT&T besaß die Rechte am Unix-Betriebssytem. Das fiel der Firma auf, als sie zerschlagen wurde. Der Markt diktierte der Unix-Division: Nutze dein exklusives Verfügungsgewalt auch exklusiv. Wissenschaftler/innen konnten bis dahin mit dem Quellcode spielen. Nun sollten sie eine Nicht-Weiterverbreitungs-Erklärung (NDA) unterzeichnen, wenn sie Zugriff haben wollten. Diese Freiheitseinschränkung erzürnte Richard Stallman und andere sehr. Sie gründeten das GNU-Projekt. "GNU's Not Unix" lautet die rekursive Abkürzung: GNU ist nicht Unix, sondern frei. Und besser. Der erste historische Geniestreich Freier Software bestand in der Schaffung einer Freien Softwarelizenz, der GNU General Public License (GNU GPL). Die GPL basiert auf dem Copyright, dreht deren Logik aber subversiv um: Software soll nicht exklusiv sein und nie wieder exklusiviert werden. Die GPL wird deswegen auch als Copyleft bezeichnet.

6. Softwarekrise. Unformalisierbares formalisieren.

Die Menschen-Welt ist informal und vielfältig-unbeschränkt. Software ist formal und algorithmisch-fixiert. Software zu entwickeln, bedeutet, Informales in Fomales zu transformieren, Fließendes zu zementieren.. Dabei kommt es auf die Perspektive der Formalisierer, Einschränker, Auswähler, Reduzierer, Zementierer und -innen an. Viele Entwickler/innen haben viele Perspektiven. Kommen gar noch Anwender- oder Auftraggeber/innen dazu, wird aus Softwareproduktion eine schier unschaffbare Herkulesarbeit. Ende der Sechziger Jahre war Hard- und Software-Technologie schließlich soweit: Die "Softwarekrise" wurde konstatiert. Die Krise hält bis heute an, und die Antworten sind bis heute die gleichen geblieben: Das Chaos der Vielfalt muß in den Griff gebracht werden. Software solle nach klaren Methoden "ingenieurmäßig" entwickelt werden.

7. Entwicklungsmodelle. Formaler, definierter, hierarchischer - ingenieurmäßig.

Ingenieurmäßiges Vorgehen bedeutet, einen zu definierenden Problembereich nach formalen Kriterien aufzubereiten. Eine Lösung muss schrittweise top-down erarbeitet werden. Dabei scheint es "einfacher" und "logischer", Entscheidungsstrukturen zu Problemdefinition, Formalisierung und Konzeption zu hierarchisieren. Wie das Ingenieure eben so tun. Das entspricht der tayloristisch-fordistischen Produktionslogik, in der Mensch als Objekt und Rädchen im Getriebe verplant wird. Er darf dort nicht - oder nur in engen Bahnen - Individuum sein. Die Menschen werden dem physikalischen Ursache-Wirkungs-Prinzip der industriellen Maschinerie untergeordnet. Manchmal ist man heute schlauer.

8. Krise der Freien Software. Small is beautiful, but slow.

Die Freie Software wurde von der fordistischen Krise nicht verschont. Mit den überschaubaren GNU-Tools ging es ja noch relativ gut. Doch mit der zentralen Komponente des Betriebssystems, dem Kernel, haperte es. "Brooks Law" schlug zu: lineare Zunahme der Personenzahl im Projekt bedeutet polynomial steigende Kommunikationsaufwände. Dieses Dilemma durch Hierarchie auszugleichen, bedeutet, den Teufel mit dem Beelzebub zu vertreiben. Also meinte das GNU-Projekt: Lass nur ein kleines Team am Hurd-Kernel hacken. Doch das dauert. Linux hat ihm inzwischen den Rang abgelaufen. Linux, das sind ein paar Prozent des Betriebssystems - doch kennen fast alle nur noch diese Bezeichnung.

9. Geniestreich Nr. 2. Individuelle Selbstentfaltung und kollektive Selbstorganisation.

Linus Torvalds stellte die fordistischen Dogmen intuitiv auf den Kopf. Anstatt die Kontrolle über jeden Schritt zu behalten, gab er sie aus der Hand. Neben das gängige Entwicklungsprinzip des "rough consensus - running code" stellte er sein "release early - release often". Grundlage des sogenannten Maintainer-Prinzips ist die individuelle Selbstentfaltung und die kollektive Selbstorganisation. Und natürlich die globale Vernetzung über das Internet. Die Selbstregulation ist entwaffnend einfach: Was funktioniert, das funktioniert. Die eigenen Bedürfnisse sind der Maßstab und die praktische Erfahrung: Die Entfaltung der anderen ist die eigene Entfaltungsbedingung.

10. Wertfreiheit. Unknappes ist wertlos.

Selbstentfaltung und (Selbst-)Verwertung schließen sich aus. Die neue Produktionsweise braucht die strukturelle Wertfreiheit von Prozeß und Produkt. Dafür sorgt die GPL. Was woanders Hobby heißt, ist hier Spitze der Produktivkraftentwicklung. Freie Software ist unknapp und damit wertlos. Es muss schon Knappheit der Freien Software hinzugefügt werden, um mit ihr Geld zu verdienen: Karton, Buch, Service, Hardware etc. Auch Bill Gates macht inzwischen seinen Frieden mit Freier Software - nur gegen die GPL tobt er noch. Kein Wunder.

11. Antagonismus. Arbeit und Kapital - zwei Aggregatzustände des Gleichen.

Die Traditionslinke kann sich ihren "antagonistischen Widerspruch von Arbeit und Kapital" abschminken. Praktisch hat sie das sowieso schon getan. Arbeit und Kapital sind Verschiedenes im Gleichen. Das Gleiche ist die kybernetische Selbstzweck-Maschine der Verwertung von Wert auf stets erweiterter Stufenleiter. Darin haben Kapital und Arbeit verschiedene Funktionen. Die Arbeit sorgt für den Wert, das Kapital für die Verwertung. Je flacher die Hierarchien, je kleiner der Betrieb, desto deutlicher vereinen sich beide Funktionen in einer Person. Auf die Freie Software geguckt wird klar: Der Antagonismus besteht zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung. Nur außerhalb der kybernetischen Wertmaschine konnte sich die Freie Software entwickeln. Will Selbstentfaltung unbeschränkt sein, braucht sie einen wertfreien Kontext.

12. Produktivkraftentwicklung. Natur, Mittel und Mensch.

Obwohl oft behauptet: Produktivkraftentwicklung ist nicht Technikentwicklung. Die "Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt" erklärt uns Marx. Solcherlei Umstände entdeckte er viele: Naturbedingungen, technische Entwicklungen, die Kooperation der Arbeitenden, die Qualifikation, die Organisation der Arbeit, allgemeines Wissen etc. Statt eines dinglichen ist also ein Verhältnisbegriff erforderlich: Produktivkraftentwicklung ist das historisch sich ändernde Verhältnis von Natur, Mittel und Mensch bei der (Re-) Produktion des gesellschaftlichen Lebens. Ein klarer Begriff der Produktivkraftentwicklung hilft, die Freie Software zu verstehen.

13. Natur-Aspekt. Die naturale Epoche personaler Herrschaft.

Jedes der drei Aspekte der Produktivkraftentwicklung ist in einer historischen Epoche dominant und bestimmt sie. Alle agrarischen Gesellschaften vor dem Kapitalismus gehören demnach zur naturalen Epoche. Die Bearbeitung des Bodens steht im Zentrum der (Re-) Produktion, Werkzeuge werden dabei nur mitentwickelt. Die Vergesellschaftung ist personal-konkret und herrschaftsförmig organisiert. Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Regulations-, Vermittlungs- und Verteilungsformen durch personale Herrschaft von Menschen über Menschen bestimmt sind.

14. Mittel-Aspekt: Die warenproduzierende Epoche abstrakter Herrschaft.

Die Arbeitsmittel-Revolution - auch industrielle Revolution genannt - bringt den Kapitalismus hervor. Güter werden hier in isolierter Einzelproduktion hergestellt. Erst der Markt vermittelt ihren Austausch. Sekundär kommt es zu den bedeutendsten Umwälzungen in der Landwirtschaft oder der Gewinnung von Bodenschätzen, die jedoch erst mit der Entwicklung der industriellen Produktion und der Naturwissenschaften möglich wurden. Die Vergesellschaftung wird nun durch die abstrakt-entfremdete Herrschaft der kybernetischen Wertmaschine strukturiert. Die Ironie der Geschichte: Der Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Herrschaft des Menschen über den Menschen hilft bei ihrer Durchsetzung. Solidarität war das Mittel. Heute ist jeder einzeln seines Glückes Schmied in allgemeiner Entfremdung. Die Gesellschaft isolierter Warenmonaden kommt auf den Punkt.

15. Mensch-Aspekt. Die herrschaftsfreie Epoche der Selbstentfaltung des Menschen.

Die Geschichte ist nicht am Ende angelangt. In den Falten der Gesellschaft entsteht Neues. Der Mensch ist immer die Hauptproduktivkraft, meint Marx. - "an sich". Die Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch "für sich", die Selbstentfaltung des Menschen, steht aus. Sie kündigt sich aber bereits an. Ihre Durchsetzung wird die abstrakt-entfremdete Vergesellschaftung aufheben und wieder personal-konkrete Vermittlungsformen etablieren - herrschaftsfrei und global vernetzt. Die Mittel dazu sind alle entwickelt. Die Vergesellschaftungsform ist die Widerspiegelung der Produktivkraftentwicklung. Die Keimformen der neuen Produktivkraftentwicklung bringt die neuen Widersprüche hervor. Die Selbstentfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch als vernünftigem Selbstzweck ist mit dem irren Selbstzweck der kybernetischen Wertmaschine unverträglich.

16. Widersprüche. Der Neue im Gewande des Alten.

Auch die Kapitalfunktionäre haben die menschliche Individualität als ultimative Produktivkraft-Ressource entdeckt. Und auch die Arbeitsfunktionierer, die abhängig Beschäftigten, entdecken neue Möglichkeiten der Entfaltung. Die zum Zerreißen gespannte Gemengelage hat Wilfried Glißmann auf den Punkt formuliert. Das Neue im Gewande des Alten hat das Motto: "Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein". Kapital- und Arbeitsfunktion, Wertschaffung und Wertrealisierung rutschen zusammen, fallen in eine Person: "Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung". Es gibt keine Auflösung: "Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch, sondern der Markt. (...) Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet." Treffender als Olaf Henkel hätte auch Marx die abstrakt-entfremdete totalitäre Herrschaft nicht illustrieren können.

17. Keimform. Freie Software.

Freie Software ist eine Keimform einer freien Gesellschaft. Bestimmende Momente einer freien Gesellschaft sind individuelle Selbstentfaltung, kollektive Selbstorganisation, globale Vernetzung und wertfreie Vergesellschaftung. All dies repräsentiert die Freie Software keimförmig. Das bedeutet: Freie Software "ist" nicht die freie Gesellschaft sozusagen im Kleinformat, sie ist auch nicht "historisches Subjekt" auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft. Sie repräsentiert in widersprüchlicher und unterschiedlich entfalteter Weise die genannten Kriterien. Sie gibt damit die Idee einer qualitativ neuen Vergesellschaftung jenseits von Markt, Ware und Geld. Nicht mehr - aber auch nicht weniger.

18. Bewußtsein. Vom "an-sich" zum "für-sich"

Es kommt darauf an, die Welt nicht nur zu verändern, sondern auch richtig zu interpretieren. Praktisch hat die Bewegung Freie Software neue Fakten jenseits des Marktes geschaffen. Dessen ist sie sich jedoch nur zum Teil bewusst. Die GPL schließt die Verwertung nicht direkt aus. Sie tut es indirekt, in dem sie der Knappheit den Boden entzieht. Dies verleitet dazu, Freie Software auch wie ein verwertungsfähiges Gut zu behandeln, in dem man sie mit anderen knappen Gütern kombiniert. Damit wird hinterrücks hereingeholt, was vordergründig ausgeschlossen wurde: Abstrakte Arbeit als Selbstzweckveranstaltung zur Bedienung des "Terrors der Ökonomie". Dabei ist Freie Software mehr: Sie ist GPL plus Selbstentfaltung - und Selbstentfaltung und Selbstverwertung schließen sich aus. Das ist schwer einzusehen, wo es doch nahe liegt, zu denken: Warum soll ich nicht mit dem Geld verdienen, was mir Spaß macht?

19. Verallgemeinern. Die freie Gesellschaft denken.

Eine Garantie gibt es für gar nichts. Die Geschichte geschieht nicht im Selbstlauf. Am Kapitalismus gibt es nichts zu verbessern. Er ist dabei, sich zur Kenntlichkeit zu entwickeln: Die Totalisierung des abstrakten Verwertungsprinzips in allen Sphären des Lebens. Die abstrakte Arbeit zieht überall ein: Erziehungsarbeit, Beziehungsarbeit, Trauerarbeit. Wo alles Arbeit ist, herrscht nur noch das abstrakte und entfremdete Wertprinzip. Der Mensch ist nur noch Kostenfaktor. Ethik und ihre Kommissionen liefern Akzeptanz. Aber was tun, wenn nicht am Kapitalismus herumreformieren? Einfach: Dämme bauen und Schiffe bauen. Dämme bauen bedeutet, Erreichtes zu verteidigen, aber keinen Pfifferling zu geben auf den Kapitalismus. Schiffe bauen bedeutet, den Kapitalismus nicht nur gedanklich abzuhaken, sondern hier und heute Neues erfinden. Freie Software z.B., oder anderes.

20. Literatur und Links. Mehr lesen und kräftig streiten.

Folgende Texte beanspruchen, einige Gräben zwischen den Thesen zu füllen:

Weitere Quellen:

  • Henkel, H.-O. (1996), Süddeutsche Zeitung, 30.05.1996
  • Kurz, R. (1999), Schwarzbuch Kapitalismus: Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Eichborn-Verlag
  • Marx, K. (1976/1890), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Frankfurt/Main: Verlag Marxistische Blätter. Identisch mit Marx-Engels-Werke, Band 23, nach der von Friedrich Engels 1890 in Hamburg herausgegebenen vierten Auflage
  • Spehr, C. (1999), Die Aliens sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter, Goldmann-Verlag.
  • Weinhausen, H. (2001), Vom Dämmebauen und Schiffebauen, Beitrag im Workshop "Reibung erzeugt Wärme. Von der Verknüpfung des Widerständigen mit dem Perspektivischen" auf der 1. Oekonux-Konferenz, vgl. www.oekonux-konferenz.de/dokumentation/texte/weinhausen.html.

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