Stefan Meretz (April 1992)

Überblick über Aufbau und Inhalt der "Grundlegung der Psychologie" von Klaus Holzkamp

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Die "Grundlegung der Psychologie" (GdP, Holzkamp, 1983) enthält mehrere Ebenen der Analyse. Diese sind miteinander verwoben und werden begründetermaßen öfter gewechselt. Das erschwert die Entgegennahme der Argumentation. Dieser 'Überblick' soll helfen, denselben zu behalten.

Methode und Inhalt? - Inhalt mit Methode!

Zunächst fällt der Unterschied zwischen methodischen und inhaltlichen Passagen auf. Dazu einige Erläuterungen. Die Kritische Psychologie betont den Primat des Gegenstands vor der Methode. Die bürgerliche Mainstream-Psychologie ist demgegenüber methodisch gegründet (vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung auf Basis der GdP: Törpel/Meretz 1991, 9f). Es wird vorgegeben, die naturwissenschaftliche Methodik zu adaptieren, und diese vorgeblich naturwissenschaftliche Methodik wird dann umstandslos auf das eigene Terrain übertragen (Hypothese ® Operationalisierung ® Datenerhebung ® mathematische Auswertung/Statistik). Dies wird von der Kritischen Psychologie als dem Gegenstand der Psychologie inadäquat kritisiert. Während die bürgerliche Psychologie also sagt, wir wissen, wie wir Daten gewinnen, und dann werten wir aus, was da rauskommt, ist die Kritische Psychologie der Meinung, daß erst der Gegenstand klar sein muß (das was), damit von dort aus bestimmbar wird, wie eine dem Gegenstand angemessene Empirie aussehen kann. Das was der Erkenntnisgewinnung selbst erfordert jedoch eine eigene wissenschaftliche Methodik, eine eigene Methodologie. Es muß wissenschaftlich erforscht werden, was wissenschaftlich analysiert werden soll und wie dies geschehen kann. Das ist das Programm der GdP, das Verfahren wird inhaltliche Kategorialanalyse genannt (vgl. dazu Törpel/Meretz 1991, 10f), das Ergebnis sind wissenschaftliche Grundbegriffe, Kategorien. Während die Kritische Psychologie zwischen historischer Empirie (Kategorialanalyse) und Aktualempirie (Analyse eines konkreten Problems) explizit unterscheidet, sind die Grundbegriffe in der bürgerlichen Psychologie selbst nicht expliziert - sie kommen irgendwo her. Kritische Psychologie und bürgerliche Psychologie haben einen völlig unterschiedlichen Methodenbegriff - bei der bürgerlichen Psychologie existiert die "Methode" unabhängig von allem, bei der Kritischen Psychologie ist sie Resultat und Bestandteil der inhaltlichen Analysen, oder zugespitzt: die Methode hat sich nach den inhaltlichen Analyseerfordernissen zu richten.

Es wird in der GdP immer wieder methodische Verallgemeinerungen aus der inhaltlichen Analyse geben, die wiederum die Analyse vorantreiben. Im Folgenden soll das etwas transparenter gemacht werden. Ich werde dabei auf miteinander verwobene unterschiedliche Strukturierungsweisen der GdP eingehen: der Kapitelstruktur, der inhaltlichen Struktur der Kategorialanalyse (Überblick) und der unterschiedlichen Analyseebenen. Dabei werde ich die Kapitelstruktur zur besseren Orientierung als Leitfaden verwenden, immer wieder aber die unterschiedlichen Argumentationsebenen versuchen aufzuzeigen.

Kapitelstruktur

Die 9 Kapitel des Buches lassen sich in 4 Bereiche gliedern:

- Kapitel 1: "Fragestellung und Herangehensweise"; hier werden die methodologischen und methodischen Vorklärungen vorgenommen und der Gegenstand der Analyse, das Psychische, bestimmt.

- Kapitel 2-7: Inhaltliche Kategorialanalyse des Psychischen (Phylogenese und gesellschaftlich-historische Entwicklung); der Hauptteil des Buches zeichnet in einer historischen Analyse die Entwicklung des Psychischen bis zum Menschen nach.

- Kapitel 8: Menschliche Individualentwicklung (Ontogenese); die Ergebnisse der Analyse werden auf die Entwicklung eines individuellen Menschen, der in gesellschaftlich-menschliche Verhältnisse hineinwächst, hin spezifiziert.

- Kapitel 9: Methodologische Prinzipien aktualempirischer Forschung; hier werden die praktischen Konsequenzen, die die vorgelegte Analyse haben muß, entwickelt und wiederum methodischen Verallgemeinerungen getroffen.

Dieser Überblick beschäftigt sich mit dem Kern des Buches, der inhaltlichen Kategorialanalyse der Kapitel 2 bis 7, und reißt die anderen Kapitel nur kurz an.

Fragestellung und Herangehensweise (Kapitel 1)

Kapitel 1.1: "Eigenart und Notwendigkeit einer kategorialen Grundlegung."

Hier werden die vier Bezugsebenen der Analyse expliziert (die philosophische, die gesellschaftstheoretische, die kategoriale und die einzeltheoretische) und ihr Verhältnis zueinander diskutiert. Es wird herausgehoben, daß der Beitrag der Kritischen Psychologie auf der kategorialen Ebene liegt und damit die These aufgestellt, daß dieser Beitrag den Charakter eines wissenschaftlichen Paradigmas hat.

Kapitel 1.2: "Umrisse des durch die kategoriale Grundlegung zu entwickelnden ›historischen‹ Paradigmas psychologischer Wissenschaft."

Die kategoriale Grundlage der bürgerlichen Psychologie ist nicht explizit, gleichwohl aber vorhanden. Mit dieser wird jedoch der Gegenstand ahistorisch verfehlt und damit das Psychische eliminiert ("Kuriosum einer ›Psychologie ohne Psychisches‹", GdP, 44). Die historische Herangehensweise Leontjews und die genetische Herleitung des Psychischen ist demgegenüber ein Wendepunkt in Richtung auf das historische Paradigma.

Kapitel 1.3: "Leitgesichtspunkte funktional-historischer Kategorialanalyse auf der Basis materialistischer Dialektik."

Das Vorhaben der GdP kann kurz als Rekonstruktion der Werdensweise ("genetische Rekonstruktion") der gegenwärtigen Geschichtlichkeit ("Historizität") des vorgefundenen Psychischen - sprich unseres Draufseins - beschrieben werden. "Gegenwärtige Historizität", das faßt auf geniale Weise das Analyseproblem, vor dem (jede) Wissenschaft steht - (nicht nur) die bürgerliche Psychologie kann das nicht denken. Dennoch enthalten die Kategorien/Begriffe der bürgerlichen Psychologie "irgendwas" von dem Gegenstand. Diese Begriffe werden deshalb als "Vorbegriffe" genommen, die Aspekte der erscheinenden Realität "irgendwie" widerspiegeln. Ihr Status und logischer Zusammenhang muß im Zuge der Kategorialanalyse geklärt werden können (vgl. dazu Törpel/Meretz 1991, 18ff). Um das zu leisten, muß die Grundform des Psychischen als gegenstandskonstituierende Grundkategorie herausgehoben werden. Ihre Ausdifferenzierungen müssen sich in ihrer Funktionalität und ihren Werdensprozeß rekonstruieren lassen - im GdP-Slang: funktional-historische Ursprungs- und Differenzierungsanalyse (zum auf-derZunge-zergehen-lassen!). Das erste Kapitel läßt sich gut verstehen, wenn die Kapitel 2-7 gut verstanden wurden!

Inhaltliche Kategorialanalyse des Psychischen (Hauptteil, Kapitel 2 bis 7)

Wem das erste Kapitel etwas zu abstrakt-ätzend war, der/die kann ab Kapitel 2 Luft holen und "neu" einsteigen. Der Schwierigkeitsgrad nimmt über die Kapitel in dem Maße zu, wie sich die Komplexität des untersuchten Gegenstands entfaltet. In dem gleichen Maße steigt auch die Ahnung (oder das Wissen) der Mächtigkeit der Kritischen Psychologie als alternative (oder paradigmatische) Herangehensweise an Realität. Im folgenden soll der Hauptteil dreimal durchschritten werden, nächst als Kapitelübersicht unter Nennung der jeweiligen Titel, dann als grafische Zuordnung von (Teil-) Kapiteln in den chronologischen Gang der Entwicklung und unterschieden nach inhaltlichen und methodischen Ausführungen und schließlich eine ausführlicher an der Methode orientierter erneuter Einstieg ins 2. Kapitel mit besonderem Blick auf die Analyseebenen mit anschließender etwas weniger ausführlicher Darstellung der folgenden Kapitel.

Überschriften der Kapitel des Hauptteils der GdP

Kapitel 2: "Die genetische Grundform des Psychischen und ihre evolutionäre Herausbildung; das methodische Problem des Aufweises qualitativer Sprünge in der Psychophylogenese"

Kapitel 3: "Die innere Ausgestaltung des Psychischen zu funktional differenzierten Organismen im Sozialverband"

Kapitel 4: "Die neue Qualität artspezifischer Lern- und Entwicklungsfähigkeit im Prozeß der Psychophylogenese"

Kapitel 5: "Wechsel der Analyseebene vom Psychischen auf den Gesamtprozeß: Die neue Qualität der gesellschaftlich-historischen gegenüber der bloß phylogenetischen Entwicklung"

Kapitel 6: "Inhaltliche Kategorialanalyse des Psychischen in seiner menschlich-gesellschaftlichen Spezifik: Bedeutungs-Bedürfnis-Dimensionen als Weltbezug des handelnden Individuums"

Kapitel 7: "Funktionale Kategorialanalyse des Psychischen in seiner menschlich-gesellschaftlichen Spezifik: Erkenntnis/Wertung/Motivation als Funktionsaspekte der Handlungsfähigkeit"

Wenn man mit der GdP ein wenig vertraut ist, hilft immer wieder ein Blick ins ausführliche Inhaltsverzeichnis, da die Überschriften in ultrakomprimierter Form den behandelten Inhalt der Unterkapitel zusammenfassen.

Grafische Veranschaulichung der Kapitelstruktur

Das folgende von oben nach unten zeitlich aufsteigende Diagramm soll eine anschauliche Vorstellung vom Gang der Argumentation durch die Kapitel geben. Der horizontale Strich markiert einen qualitativen Sprung in der Entwicklung. Das Schema kann nur ganz grob sein, es spiegelt ganz gut den "Zick-Zack-Weg" zwischen inhaltlichen und methodischen/methodologischen Ausführungen wider.

Inhaltlicher Prozeß Kapitel -
inhaltlich
Kapitel -
methodisch
     
Vorbiologische Prozesse (nur erwähnt: S.59)  

ê

keine Angaben  

Vorpsychisches Leben 2.1/2.2 2.2.1
  2.3  

ê

2.4 2.5

Psycho-phylogenetische Entwicklung 3.2-3.4 3.1
- Festgelegtheit 4.2 4.1
  4.3  

ê

4.4  

- Individuelles Lernen 4.5 4.1

ê

5.2 5.1

Gesellschaftlich-historische Entwicklung 5.2.5  
- Herausbildung der gesellschaftl. Natur 5.3 5.4
- Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit 6.2-6.3 6.1
  7.2-7.5 7.1

 

Durchgang durch den Hauptteil der GdP mit Blick auf die Analyseebenen

Analyseebenen sind Blickwinkel auf Realität: durchs Mikrokop oder durchs Fernrohr, in einer Momentaufnahme oder auf den Prozeß geblickt - die Ergebnisse sind völlig verschieden. Der Blick, also die Art der Analyse, muß sich nach dem zu erkennenden Gegenstand richten.

Historisches Herangehen statt Herangehen an Historisches

Wie geht das? Hier bietet die "historische Herangehensweise" (s.o.) gute Kriterien. Alles was ist, muß geworden sein. Die Gewordenheit in allen relevanten Aspekten nachzuzeichnen, also den Prozeß "im Kopf" unter Ausnutzung empirischer Befunde möglichst genau zu rekonstruieren, ist das Ziel der Analyse. Die Methode wurde bei Marx abgeguckt, der das entsprechende an einem anderen Gegenstand durchführte: der Genese der Wertform (die Diskreditierung des Namens "Marx" durch den Niedergang der "Realsozialismen" tut der Genialität der Methode keinen Abbruch).

Ausgangsabstraktion

Worum geht's bei der Kritischen Psychologie? Um uns, um unser Draufsein, um das, was der Psychologie eigentlich ihren Namen gibt: um das Psychische. Leontjew war es, der gezeigt hat, "daß das Psychische als ›erlebte Innerlichkeit‹ des Menschen nicht mit dem Psychischen überhaupt gleichgesetzt werden darf, sondern ein historisches Spätprodukt des Psychischen ... darstellt." (GdP, 46, ohne Hervorhebungen). Das Psychische wurde von Leontjew als "Ausgangsabstraktion" durch "Verdampfen" aller Konkretismen bestimmt, es ist also das abstrakte Allgemeine, das alle mannigfaltigen Bestimmungen unseres Draufseins enthalten muß. Es ist allgemein/abstrakt genug und es hat Geschichte - jetzt ergeben sich "wie von selbst" die notwendigen Analyseebenen und -schritte.

Qualitative Sprünge

Als erstes muß das Ding (das Psychische) mal auf die Welt gekommen sein. Es muß etwas gegeben haben, daß durch Entwicklung die Qualität bekam, die "das Psychische" genannt werden kann. Aber nichts kommt aus nichts - es muß also auch vorher etwas dagewesen sein, von dem aus sich das entwickelte, was dann das Psychische wurde. Aber das hatte noch nicht die Qualität des Psychischen, kann es nicht gehabt haben, sonst muß man von der ewigen Existenz des Psychischen ausgehen. Das zu lösende analytische Problem ist das des "qualitativen Sprungs". Das kommt auch von Marx und beinhaltet - verknappt gesprochen - die Erkenntnis, daß Entwicklung nicht als bloße Zunahme von Quantitäten oder als lineare Addition von Komplexität als Resultat höherer Quantität verstanden werden kann. In fortgeschrittenen bürgerlichen Wissenschaftskonzepten firmiert sowas z.T. unter Begriffen wie "Synergetik", "Selbstorganisation", "Emergenz", "Autopoisis" etc. - mit m.E. unzulässigen Verallgemeinerungen auf die Gesellschaft (vgl. z.B. Jantsch 1982).

Funktionale Sichtweise

Also: wie kam es zum qualitativen Sprung vom Vorpsychischen zum Psychischen? Das wirft empirische wie methodologische Anforderungen auf. Hier soll nur die Herangehensweise mit Blick auf die sich daraus ergebende Analyseebene diskutiert werden. Neben der historischen Herangehensweise wird die "funktionale" eingeführt und genutzt: "Wenn von ›Funktion‹ die Rede ist, wird ein bestimmter Prozeß oder Sachverhalt zu dem übergeordneten Gesamtsystem in Beziehung gebracht." (GdP, 61). Konkreter: Was interessiert, ist die Population und nicht das Individuum, oder anders gesprochen: das Individuum interessiert nur, solange seine Erhaltung funktional für die Erhaltung des übergeordneten Populationensystems ist. Mit neuem methodischem Werkzeug im Kopf kann die Anforderung präzisiert werden: Welche Umstände waren vorhanden, sodaß das Gesamtsystem, die Population, dazu gebracht wurde, das zu entwickeln, was wir das Psychische nennen? Diese Frage nun wiederum treibt die Methode nach vorn und führt zum ...

Widerspruchskonzept

Die Erhaltung oder Reproduktion einer Population auf gleichem Niveau war historisch der Ausnahmefall. In der Regel führten Umweltveränderungen - selbst erzeugt z.B. durch Stoffwechselabprodukte oder extern bewirkt - zu einem "inneren Widerspruch" für die Population. In diesem Fall ist Entwicklung notwendig in der Erhaltung der Population eingeschlossen - es mußte zu einer erweiterten Reproduktion von Organismen kommen. Aus dem Blickwinkel der Population formuliert: die Population mußte sich an veränderte Bedingungen anpassen. Die Anpassung, also die Entwicklung, ist nur über Generationen hinweg möglich - der Mechanismus war der der Mutation und Selektion. Die Analyseebene ist also die der Entwicklung der Populationen mit der Zeit, die einzelnen Organismen waren in der frühen Phase noch völlig festgelegt (aus der Festgelegtheit wird bestimmt mal ein Entwicklungswiderspruch ...!). Sind die auftretenden Umweltveränderungen zu extrem (z.B. zu schnell eingetreten), so besteht die Möglichkeit, das der innere Widerspruch nicht mehr durch Entwicklung aufgehoben werden kann. In dem Fall ist der Widerspruch nicht mehr vermittelbar, Entwicklungsdruck und Entwicklungskapazität stehen sich unvermittelbar als Gegensatz, als äußerer Widerspruch gegenüber. Es kommt zum Verfall der Population (Aussterben). Schließlich ist der dritte Fall der Abwesenheit von Widersprüchen denkbar, der sich in (relativer) Stagnation zeigt. Zwischen den Extremen der relativen Stagnation und des Aussterbens liegt die Spanne evolutionärer Entwicklung.

Widerspiegelung

Organismenpopulationen existieren immer nur in historisch konkreten Umwelten. Die Population als offenes System ist also nur adäquat denkbar in Relation zur Organismusumwelt. Die Kritische Psychologie hat das als "Organismus-Umwelt-Zusammenhang" auf den Begriff gebracht. Jetzt kommt's: In Verallgemeinerung des Widerspruchskonzepts kann der Organismus-Umweltzusammenhang als "funktionales Widerspiegelungsverhältnis" gefaßt werden. Die Populationenentwicklung unter historisch konkreten Bedingungen spiegelt genau diese Bedingungen funktional (also nicht kausal) wider, denn sie wurden evolutiv hervorgebracht. "In den ›Flossen‹ oder der ›Form‹ des Fisches etwa spiegeln sich Eigenschaften des Wassers wider, aber nicht aufgrund unmittelbar-kausaler Einwirkung, sondern als Resultat eines in der evolutiven Entwicklung hervorgebrachten qualitativen Umsetzungsprozesses, durch welchen die ›Flossen‹ bzw. die ›Form‹ des Fisches dessen ›Überlebenschancen‹ im Wasser durch Optimierung der Fortbewegung erhöhen, also für die Erhaltung des Populationssystems ›funktional‹ geworden sind." (GdP, 65f). Das verbirgt sich also hinter dem schon oben verwendeten Term "funktional- historische Analyse".

Erste Ebene - erster Sprung - methodische Wendung

Die erste Analyseebene ist die des Organismus-Umwelt-Zusammenhangs im Hinblick auf die Reproduktion der Population. Der erste qualitative Sprung, der untersucht wird, ist der Übergang vom vorpsychischen zum psychischen Stadium. Die Umweltbedingungen, Organismenkapazitäten und daraus resultieren Widersprüche müssen rekonstruiert werden. Ist das inhaltlich vollbracht (wird hier nicht verraten), so werden die daraus gewonnenen Erkenntnisse der Stufenfolge der Herausbildung des Psychischen wiederum "methodisch gewendet" (Kap. 2.5). Es werden verallgemeinerte "fünf Schritte der Analyse des Umschlags von Quantität in Qualität im phylogenetischen Prozeß" für den weiteren Analysegang gewonnen. Es sind dies:

1. Schritt: Analyse der Ausgangssituation - Bestimmung des Organismus-Umwelt-Zusammenhang v.a. hinsichtlich der Dimensionen, die sich qualitativ ändern.

2. Schritt: Analyse der objektiven Umweltveränderungen, die zum inneren Entwicklungswiderspruch werden; Bestimmung des spezifischen Selektionsdrucks.

3. Schritt: Erster qualitativer Sprung als Funktionswechsel zur Herausbildung der Spezifik der neuen Funktion, die aber für den Gesamtprozeß, die Populationenentwicklung, noch nicht bestimmend geworden ist.

4. Schritt: Zweiter qualitativer Sprung als Dominanzwechsel, worin die neue Funktion zur für die Systemerhaltung bestimmenden Funktion wird.

5. Schritt = 1. Schritt der nächsten Entwicklungsstufe: Umstrukturierung des Gesamtsystems auf die neue Funktion, Neubestimmung der Funktion früherer Dimensionen, Herausbildung der Dimensionen für den nächsten Entwicklungsschritt.

Der Gang der Analyse über die verschiedenen Ebenen

Die relativ ausführlichen Ausführungen zur Methodologie im Vorhinein (steht ja alles noch mal in der GdP) soll einen Überblick verschaffen. Die Herangehensweise ist nun hoffentlich so weit klar, daß die Vorstellung der Analyseebenen der Kapitel 2 bis 7 im groben Überblick eingeordnet werden können.

Die erste Analyseebene ist die der Populationenentwicklung durch Aufweis des jeweils realhistorischen Organismus-Umwelt-Zusammenhangs. Der erste Entwicklungssprung ist die Herausbildung des Psychischen (Beginn der Psychophylogenese).

Im 3. Kapitel wird die innere Ausgestaltung des Psychischen aufgedröselt, womit die Dimensionen in den Blick rücken, die sich durch Entwicklung in unterschiedlichem Maße - je nachdem, welche der Dimensionen entwicklungsbestimmende Funktion bekommt - entwickeln werden: Orientierung, Emotionalität, Kommunikation. Die Analyseebene ist nach wie vor die der Populationen (Psychophylogenese).

Im 4. Kapitel wird ein Entwicklungssprung innerhalb der Phylogenese analysiert: die Entwicklung von der Festgelegtheit zur Lernfähigkeit. Die Motivation als neue Dimension tritt hinzu, die anderen haben sich verändert.

Im 5. Kapitel wird ein Wechsel der Analyseebene vollzogen. Es reicht nicht mehr aus, sich die Ebene der Populationen anzuschauen, denn der "Entwicklungstyp" ändert sich völlig: die Psychophylogenese wird aufgehoben durch die gesellschaftlich-historische Entwicklung. Die geschichtliche Entwicklung ist nun nicht bloß ein Prozeß innerhalb der Phylogenese, sondern ein Prozeß "sui generis" gegenüber der Phylogenese. Die neue Analyseebene ist daher die des der Populationenentwicklung übergeordneten Gesamtprozesses. Der Gesamtprozeß der phylogenetischen Entwicklung mit den Entwicklungmodus der Mutation und Selektion wird abgelöst (nur aus Sicht der Menschheitsentwicklung betrachtet) durch den gesellschaftlich-historischen Prozeß als Resultat der Phylogenese selbst. Die Phylogenese hebt "sich selbst" als Entwicklungmodus auf. Auf der Ebene des Gesamtprozesses, der des Entwicklungsmodus', muß der qualitative Umschlag herausanalysiert werden. Ist das geschafft, kann zur Analyseebene des Psychischen zurückgekehrt werden - diesmal nicht aus Populationensicht sondern unter menschlich-gesellschaftlicher Spezifik. Alle Dimensionen, insbesondere die der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit, müssen auf den neuesten "Stand" gebracht werden.

Im 6. Kapitel wird wieder zur Ebene des Psychischen zurückgekehrt, die inhaltlichen Aspekte der Dimensionen der gesellschaftlichen Natur des Menschen werden ausgefaltet. Verknappt gesprochen: es werden die allgemein-menschlichen Potenzen unabhängig von konkreten Lebensbedingungen herausgehoben. Dies ist absolut entscheidend, da i.A. nicht zwischen allgemeinen Potenzen und dem konkreten Verhältnissen geschuldeten Draufsein unterschieden werden kann. Dafür ist die bürgerliche Psychologie inhärent blind. Das Ergebnis der Analyse ist das zentrale Konzept mit der Kategorie "Handlungsfähigkeit", oder genauer gesprochen: die personale Handlungsfähigkeit als gesamtgesellschaftlich vermittelte Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen.

Im 7. Kapitel erfolgt "das gleiche" noch einmal, jedoch in funktionaler Analyse bezogen auf konkrete Lebensverhältnisse der Menschen und schließlich der einzelnen Subjekte. Es wird also gefragt, wie sich die gesellschaftliche Natur des Menschen (die Potenzen), unter konkreten Bedingungen entwickeln (mußte). Dabei werden drei "Stränge" verfolgt: Wahrnehmung, Emotionalität und Sozialstrukturen, die sich in neuer Qualität entwickeln (müssen). Ab Kapitel 7.3 nimmt der Analysegegenstand endgültig subjektwissenschaftlichen Charakter an, d.h. der Gegenstand der Analyse erzwingt seine Behandlung vom Standpunkt der betroffenen Subjekte. Die ForscherIn wird damit selbst ihr eigener Gegenstand (was entsprechende methodologische Konsequenzen hat, die in Kapitel 9 erörtert werden). Um welche konkreten Lebensverhältnisse geht es in Kapitel 7?

  • um die Funktionsgrundlage zur Entwicklung der Produktivkräfte im Allg. (7.2);
  • dito für die Bedingung der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz im Allgemeinen (7.3);
  • dito für das einzelne Subjekt (7.4), Konzept der subjektiven Handlungsgründe;
  • dito für die bürgerliche Klassengesellschaft (7.5).

Menschliche Individualentwicklung (Kapitel 8)

In diesem Kapitel geht es um die individuelle Aneignung der Potenzen, die spezifisch nur dem Menschen zukommen (wie in Kap. 2-7 erarbeitet). Auf die Darstellung der Inhalte dieses Kapitels wird hier verzichtet.

Methodologische Prinzipien aktualempirischer Forschung (Kapitel 9)

Im "anwendungsorientierten" Kapitel der GdP wird der bürgerlichen Psychologie ihr Zeug um die Ohren gehauen und positiv bestimmt, wie denn nun aus "allgemeinen" Kategorien "konkrete" Einzeltheorien werden können.

9.1 "Vorbemerkung."

Hier wird noch mal "hervorgehoben, daß die den psychologischen Konzepten inhärenten kategorialen Bestimmungen ... immer auch methodologische Implikationen darüber enthalten, wie an den jeweils ›herausgeschnittenen‹ Gegenstand ... ›heranzugehen‹ sei, wobei gerade dadurch wesentlich vorherbestimmt ist, welche Aspekte an einem Gegenstand erfaßt und welche vernachlässigt werden." (GdP, 509).

9.2 "Inhaltliche Bestimmung des Verhältnisses Kategorien/historische Empirie - Einzeltheorien/Aktualempirie."

Die analytische Funktion des entwickelten Kategoriensystems im Forschungsprozeß wird als Kritik, Reinterpretation oder Weiterentwicklung psychologischer "Vorbegriffe" dargestellt (siehe oben). Dabei wird die Gegenstandsadäquatheit als den wissenschaftlichen Objektivierungskriterien vorgeordnet betont (vgl. Törpel/Meretz 1991, 11).

9.3 "›Kontrollwissenschaftlicher‹ vs. ›subjektwissenschaftlicher‹ Ansatz psychologischer Verfahrensweisen."

Die bürgerliche Psychologie wird als "Kontrollwissenschaft" gekennzeichnet (vgl. Törpel/Meretz 1991, 10). Das Fremdsetzen von Bedingungen im "Forschungsprozeß" entspricht damit strukturell dem Standpunkt der Herrschenden unter bürgerlichen Lebensverhältnissen. Demgegenüber wird die Herstellung einer intersubjektiven Beziehung zwischen den am Forschungsprozeß Beteiligten (Durchbrechung des Forschenden-Beforschten-Verhältnisses) herausgehoben (vgl. Törpel/Meretz 1991, 13f).

9.4 "Methodologische Objektivierungskriterien subjektwissenschaftlicher Aktualforschung auf dem Spezifitätsniveau gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz."

Das Konzept des "Möglichkeitsraumes" und der "Möglichkeitsverallgemeinerung" wird als Nachprüfbarkeitskriterium entfaltet. Die empirische Geltung von Resultaten subjektwissenschaftlicher Aktualforschung läßt sich aus der Einheit von Praxis und Erkenntnisgewinn begründen. Die mögliche Funktion experimentell-statistischer Ansätze wird diskutiert.

9.5 "Methodologische Prinzipien subjektwissenschaftlicher Aktualforschung mit Bezug auf nachgeordnete bzw. weniger spezifische Gegenstandsniveaus."

Eine mögliche subjektwissenschaftliche aktualempirische Grundlagenforschung, die sich mit unspezifischen Gegenstandsniveaus (z.B. Gradientenorientierung als unspezifischer Aspekt menschlicher Wahrnehmung) beschäftigt, wird diskutiert. Dabei wird eine Annäherung an das traditionell-pyschologische Bedingtheitskonzept festgestellt, jede statistische Prüfung aber als unsinnig abgelehnt. Stattdessen muß jedes Einzelindividuum die untersuchten unspezifischen Einzelaspekte der gesellschaftlichen Natur voll enthalten. Die Geltung solcher Untersuchungen darf jedoch nicht auf spezifische Niveaus ausgedehnt werden.

Literatur

Holzkamp, K. (1983), Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M: Campus.

Jantsch, E. (1982), Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, München: dtv.

Törpel, B., & Meretz, S. (1991), Projekt "Begriffliche Fundierung der Informatik" - Bericht über den Stand unserer Überlegungen, TU Berlin.