Stefan Meretz, Iris Rudolph (Januar 1994)

Die »Krise« der Informatik als Ausdruck der »Krise« der Produktivkraftentwicklung

Zusammenfassung    Download

Seit mehr als 25 Jahren wird in der Informatik von »Softwarekrise« gesprochen. Worin besteht diese »Krise«, die immer noch nicht überwunden ist, welches waren ihre Etappen? Während es für die ProgrammiererInnen der ersten Computergenerationen »nur« darum ging, vorhandene mathematisch-naturwissenschaftliche Lösungen in eine Programmiersprache umzusetzen (Kodierung), wuchsen Komplexität und Umfang der Programmsysteme mit der Verfügbarkeit leistungsfähigerer Hardware so stark an, daß die alten Fertigkeiten der Programmierung nicht mehr ausreichten. Es wurde erkannt, daß die der Kodierung vorgelagerten Schritte der Analyse und des Designs einer eigenständigen wissenschaftlichen Fundierung bedurften. Auf den NATO-Konferenzen 1968 in Garmisch und 1969 in Rom wurde mit dem Begriff des Software-Engineerings [1] ein Ausweg formuliert: die Softwareentwicklung sollte eine Ingenieurs-Disziplin werden. Der Prozeß von der Analyse eines Problems über das Design einer Lösung bis zur Kodierung mittels einer konkreten Programmiersprache sollte durch formale Methoden unterstützt und klar strukturiert werden. Diese erste Phase der »Krise«, die auch als »Krise« der Bewältigung der gestiegenen Komplexität beschrieben werden kann, war die Geburtsstunde der Informatik als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin. Es kam zu einer Art innerer Ausfaltung der Informatik in unzählige kleine und kleinste Subdisziplinen. Viele Hilfsmittel - meist selbst Softwareprodukte - wurden geschaffen, um die Komplexität des Softwareentwicklungsprozesses beherrschbar zu machen. Doch übereinstimmend besteht die Meinung, daß die »Krise« nicht überwunden ist - zu vernichtend sind die Bilanzen der Softwareprojekte. Dies wurde erst jüngst mit dem Scheitern des Taurus-Projekts offensichtlich: mehrere hundert Millionen DM wurden beim Versuch, ein Börsensystem für die Londoner Börse zu entwickeln, in den Sand gesetzt - der bislang teuerste Software-GAU im nichtmilitärischen Bereich [2].

Die Ursachen der anhaltenden »Krise« werden meist in der ungenügenden Strukturierung der Softwareprojekte gesehen [3], als Ausweg wird das Konzept der Software-Fabrik [4] vorgeschlagen. Gleich der industriellen Produktion materieller Güter, müsse auch das immaterielle Gut Software industriell produziert werden. Nicht nur die Heranziehung von Software-Ingenieuren reiche aus, auch ein industrielles Projektmanagement sei erforderlich [5].

Diese Beschreibung und entsprechende Bewältigungsversuche der »Softwarekrise« sind u.E. völlig inadäquat, mehr noch, sie sind dysfunktional geworden. Bei der »Softwarekrise« handelt es sich längst nicht mehr nur um eine »Krise« der Bewältigung von Quantität und Komplexität, es handelt sich um eine paradigmatische »Krise« der Informatik und damit letztlich um eine »Krise« der gegenwärtigen Art und Weise der Produktivkraftentwicklung. Wir wollen dies hier am Beispiel der Informatik verdeutlichen und dann verallgemeinern.

Gegenstandsverfehlung der Informatik

Informatik hat unstrittig etwas mit Computern zu tun. Historisch verlangten die Probleme bei der Herstellung und im Umgang mit Computern eine wissenschaftliche Durchdringung. Insofern war es angemessen, den Computer als Gegenstand der Wissenschaft Informatik zu fassen [6] - eine Bestimmung, die heute völlig überholt ist, wie wir im folgenden zeigen wollen. Eine systematische Forschung zur Neubestimmung eines Gegenstands der »Wissenschaft Informatik« fand nicht statt. Da aber Informatik weiterhin so betrieben wird, als ob der Computer im Zentrum der Wissenschaft steht, konstatieren wir eine Gegenstandsverfehlung der Informatik. Die Gegenstandsverfehlung der Informatik zeigt sich zuallererst im Fehlen von einheitlichen Grundkategorien, also solcher Grundbegriffe, die den Gegenstand bestimmen und ihn von anderen abgrenzen. Auch der scheinbar naheliegende Begriff der »Information« hat nicht diesen Status, da völlig unklar ist, was »Information« überhaupt ist. Es gibt zwar viele Informationsdefinitionen, diese gründen jedoch alle in bürgerlichen Theorien und führen zur einer reduktionistischen Gegenstandsauffassung der Informatik [7]. Auch dieses, sowie die Konsequenzen des Festhaltens am überkommenen Informationsbegriff, wollen wir im folgenden beleuchten und als Ansatz Kriterien für einen marxistisch fundierten Informationsbegriff entwickeln.

Was ist »Information«?

Der Hauptstrom der Informationstheorie geht von drei Grundbegriffen aus: Stoff, Energie, Information. Mit dieser Vorstellung wird »Information« gleichursprünglich neben Stoff und Energie gestellt. Danach haftet allem Stoff unabhängig von Gestalt und Organisationsform auch »Information« an, also einem Stein wie einer Amöbe wie dem Menschen. Die Versuche, eine solche »Substanz« Information zu quantifizieren, führen meist zu einer Art umgekehrter Entropie (Maß für Unordnung), zu einem Maß für Ordnung. Schon Shannon [8], der als erster eine Informationsdefinition vorlegte, definierte seinen Informationsbegriff in Anlehnung an den Entropiebegriff - ein sinnvolles Unterfangen, da es ihm ausschließlich um das Maß übertragener Signale ging. Sieht man sich die mit Hilfe des substanzialistischen Informationsbegriffs beschriebenen physikalischen Prozesse an, so kann man feststellen, daß die Begriffe Stoff und Energie sowie davon abgeleitete physikalische Kategorien wie Entropie für eine Fassung solcher Prozesse völlig ausreichen. Damit wird aber eine Zusatzkategorie Information entweder gänzlich fragwürdig, oder sie muß eine neue Qualität der Organisationsform von Materie zu fassen in der Lage sein. Letzteres ist der Fall. Diese neue Qualität ist das Leben, erst hier - und nicht für nur-physikalische Prozesse - ist ein Informationsbegriff zur Fassung eben dieser Qualität unabdingbar. Da aber das Leben nur eine besondere Organisationsform von Materie darstellt, nämlich eine, die entwicklungslogisch über der Stufe der unbelebten Materie steht, kann ein mit dieser Stufe der Entwicklung verbundener Informationsbegriff nicht den Status einer Stoff und Energie gleichrangigen Kategorie haben; »Information« ist dann eine Differenzierungskategorie der Basiskategorien.

»Information« und Leben

Wieso ist »Information« ein genuiner Lebensaspekt? Organismen können sich vermehren, sie sind mutagen und sie nutzen den Stoffwechsel als Energiequelle zur Lebenserhaltung. Darüberhinaus hat die "organismische Systemerhaltung ... neben dem energetischen gleichursprünglich einen Informationsaspekt: Der Organismus reagiert auf bestimmte äußere Bedingungen nicht lediglich gemäß unspezifischen chemisch-physikalischen Gesetzen, sondern setzt diese Bedingungen selektiv in (mindestens) innere Aktivität um ... Organismische Aktivitäten unter dem Aspekt einer dergestalt selektiven Informationsauswertung werden »Reizbarkeit«, »Erregbarkeit« oder auch »Irritabilität« genannt und stellen eine elementare Eigenart von Lebensprozessen dar." [9]. »Information« ist hier präzise als Verhältnis- oder Vermittlungsbegriff gefaßt: »Informationen« vermitteln zwischen Organismus und Umwelt. Ein solcher Vermittlungsbegriff »Information« muß als lebenskonstitutive Kategorie auf allen höheren Entfaltungsstufen des Lebens aufweisbar sein und dabei gemäß der jeweils neuen Entwicklungsqualität diese auch widerspiegeln. »Information« für eine Amöbe ist - qualitativ! - nicht die gleiche wie für uns Menschen. Die weiteren Entwicklungschritte seien kurz umrissen. Auf der nächsten qualitativ höheren Entwicklungsstufe des Psychischen, der signalvermittelten Lebenstätigkeit, ist die »Information« nicht bloß ein »Reiz«, sondern sie ist inhaltlich qualifiziert. Die »Information« hat hier für den Organismus eine Bedeutung als Aktivitätsrelevanz. Ab der Stufe des Psychischen kann man statt von Information daher auch von Bedeutung sprechen. Die Vermittlung zwischen Organismus und Umwelt durch die Bedeutung eines Signals, also der Aktivität die es auslöst, ist zunächst noch festgelegt. Erst mit der Herausbildung der Lernfähigkeit wird die Festlegung der Zuordnung von Bedeutungen zu Aktivitäten aufgebrochen. Lernfähige Tiere können diese Zuordnungen erlernen, sie müssen es allerdings auch. Bei Tieren hat die Vermittlung zwischen Umwelt und Organismus durch die Bedeutung - ob erlernt oder festgelegt - den Charakter einer Determination. Tritt eine Bedeutung auf und ist beim Tier ein Bedarf gegeben, so erfolgt die Aktivität quasi automatisch. Aus dem Umwelt-Tier-Determinationszusammenhang wird auf menschlicher Stufe eine Mensch-Welt-Möglichkeitsbeziehung. Da das gesellschaftliche Gesamt auch ohne den konkret-einzelnen Beitrag funktioniert, gibt es grundsätzlich für jede/n die Möglichkeit, so oder auch anders oder gar nicht zu handeln. Bedeutungen, wie sie uns vor allem durch die gesellschaftlich produzierten Bedingungen gegeben sind, sind also immer nur gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten - niemals Handlungsdeterminanten. Diese fundamentale Erkenntnis gilt universell, also auch unter den Bedingungen der Fremdbestimmung. Menschen können sich zu Bedeutungen (oder Informationen, für Menschen sind das Synonyme) bewußt verhalten.

Blinde Informatik

Was resultiert nun aus einer Informatik, die die skizzierten Zusammenhänge nicht sieht? Wie sieht die Informatik »Informationen«, für die sie doch beansprucht, »Verarbeitungen« zu konstruieren? Der Herstellung eines informatischen Produkts, z.B. einer Software, geht eine Vorstellung darüber voraus, wozu das Produkt »gut« sein soll [10]. Der Zweck muß antizipiert werden, das heißt, gedanklich muß die zukünftige Bedeutung vorweggenommen werden. Softwareentwicklung ist nun, verknappt formuliert, der Prozeß der Umsetzung der gedanklichen-vorweggenommenen in die faktische Bedeutung. Dieser Prozeß verläuft über viele Stufen beginnend bei der Analyse des Umfeldes, in dem die Software eingesetzt werden soll, bis zur Synthese des Softwareprodukts. Software vergegenständlicht soziale, ökonomische und damit auch entsprechende Machtverhältnisse [11]. Softwareentwicklung ist also kein neutraler Prozeß - das gilt jedoch für die Technikentwicklung ganz allgemein. Das besondere an der Softwareentwicklung, wie sie hauptsächlich betrieben wird, ist, daß die EntwicklerInnen meinen, etwas zu tun, was sie gar nicht tun können, denn die oben beschriebene Gegenstandsverfehlung der Informatik schlägt sich im Softwareentwicklungprozeß als verfehltes theoretisches Verständnis dieses Prozesses nieder. Dies ist genauer zu erläutern.

Der »Informationsinhalt« wird als stoffliche Eigenschaft auf der physikalischen Ebene aufgefaßt. Damit kann das physikalische Ursache-Wirkungs-Schema auch auf die »Information« angewendet werden. Konsequenterweise wird damit »Informationsverarbeitung« auf einen linearen kausal-logischen Prozeß reduziert nach dem bekannten Computerschema: "Wenn ... dann ...". Wird diese Vorstellung verallgemeinert - und dies geschieht in der Regel -, so ist jegliche qualitativ höhere Widerspiegelung von Materie, wie die des Lebens, ebenfalls ausschließlich kausal-logisch beschreibbar. Damit werden auch menschlich-gesellschaftliche Prozesse behandelt wie quasi-physikalische Phänomene: die Fabrik, die Gesellschaft etc. als physikalischer Prozeß. Bloß-physikalische Prozesse sind nun in der Tat kausal-logisch faßbar, diese haben jedoch, wie wir darlegten, mit »Information« nichts zu tun. Die Funktionsweise von Computern ist auf dieser unspezifischen Ebene bloß-physikalischer Prozesse beschreibbar als regelgeleiteter sukzessiver Ersetzungsvorgang von Zeichen abgebildet als Signalkombination ("Ein-Aus-Schema"). Die Steuerung dieser physikalischen Zustandsänderungen erfolgt über die Software. Statt »Informationen« werden unspezifische Zeichen »verarbeitet«. Diese Zeichen sind, da sie nicht die sinnliche Hülle einer Bedeutung oder Information darstellen, für sich bedeutungslos. Zeichen (etwa Buchstaben) können Bedeutungen vermitteln (etwa die eines Begriffes), sie sind jedoch niemals mit dieser Bedeutung [12] identisch.

Diejenigen, denen Informationen/Bedeutungen vermittelt werden, sind wir, die Menschen. »Dem« Computer wird nichts »vermittelt«, »dem« Computer »bedeuten« die Zeichen nichts, ja, es ist eigentlich absurd, so zu schreiben, als ob »dem« Computer ein Subjektstatus zukommt. Diese Subjekt-Zuschreibungen sind jedoch die Regel. Statt einer klaren Werkzeug-Benutzenden-Perspektive ("Wozu kann ich den Computer gebrauchen?") wird meist eine quasi-subjekthafte Computerperspektive eingenommen ("Was kann »der« Computer?"). Alltagspraktisch hat es kaum Konsequenzen, »den« Computer subjekthaft »zu behandeln« ("Was will er(?) mir mit dieser Meldung sagen?"). Wird jedoch dieses Herangehen mit all den aufgezeigten theoretisch fehlgehenden Grundlagen in einen Softwareentwicklungsprozeß eingebracht, so sind die Konsequenzen erheblich. Als Beispiel sei der Fall eines Rationalisierungsvorhabens in der Produktion oder Verwaltung diskutiert.

Blinde Softwareentwicklung

Ziel von Rationalisierungsvorhaben unter kapitalistischen Bedingungen ist primär die »Freisetzung« von Arbeitskraft. Zu diesem Zweck wird im gegebenen Bereich die vorhandene Arbeitsorganisation untersucht, und die Anforderungen an das neue System werden erhoben. Daß es dabei um Interessenkonflikte geht, ist meist noch schnell einsichtig. Nicht gesehen wird hingegen, daß es unmöglich ist, Arbeitshandlungen innerhalb der alten Arbeitsorganisation durch ein Computersystem zu ersetzen. Diese Aussage ist absolut zu nehmen! Warum? Menschliche Handlungen sind durch die bedeutungsvolle Welt vermittelt, zu denen sich die Menschen verhalten. Diese vergegenständlichte Bedeutungshaftigkeit etwa der Produktions- oder Verwaltungsprozesse mit den darin eingesetzten bedeutungsvollen Mitteln lassen sich nicht reduzieren auf figurale (Form, Farbe etc.), zeichenhafte oder kausal-logische Strukturen. Wird die Produktion oder Verwaltung als quasi-physikalischer, kausal-logisch beschreibbarer Prozeß aufgefaßt, so wird jedoch genau dies versucht. Doch auch unter fremdbestimmten Bedingungen wie etwa der kapitalistischen Produktion »funktionieren« die Menschen nicht nach dem Ursache-Wirkungs-Schema wie der Computer. Genau dies wird jedoch implizit angenommen, wenn menschliche Arbeitskraft durch computerbasierte Systeme ersetzt werden soll. Diese Vorstellung der »Ersetzbarkeit« menschlicher Tätigkeiten im Arbeitsprozeß, der die Annahme des »Funktionierens« der Menschen nach kausal-logischen Gesetzen zugrunde liegt, spiegelt die dem Kapitalstandpunkt immanente Position der Fremdbestimmung wider. Eine auf diesen Grundlagen basierende realisierte Technik ist vergegenständlichter Herrschaftanspruch des Kapitals. Die Reduktion bedeutungsvoller und -vermittelter Handlungen auf ihre formalisierbaren und damit maschinengestützt operationalisierbaren Aspekte ist identisch mit dem Kapitalstandpunkt der Fremdbestimmung - auch wenn der/die einzelne InformatikerIn subjektiv anderes im Sinne hat. Der klassische wie der »moderne« (objektorientierte) Softwareentwicklungsansatz zielt auf die Elimination der kontextabhängigen (subjektiv wie objektiv) bedeutungsbehafteten Aspekte menschlicher Arbeitstätigkeiten ab, um die »hochproduktiven« Systeme zu realisieren, die die verbliebenen Menschen nurmehr »bedienen« (nicht etwa - für sich - benutzen!) sollen. Daran ändern grundsätzlich auch bunte Bildschirme und ereignisgesteuerte »Oberflächen« nichts. Auch hier hat sich der Realsozialismus den Herrschaftsanspruch des Kapitals schon vor der Wende eingekauft.

Selbst wenn man zunächst von den meist brisanten Interessenkonflikten, die bei der Durchführung von Softwareprojekten aufbrechen, einmal absieht, so ist auch die Vorstellung der Transformation menschlicher Handlungen in computergesteuerte Systeme eine Fiktion. Weil eine Absehung von bedeutungsvollen Aspekten nicht möglich ist ohne menschliche Handlungen auf quasi-physikalische Prozesse zu reduzieren, dies aber theoriebedingt dennoch geschieht, scheitern Softwareprojekte - spätestens in der Praxis. Sogenannte CIM-Havarien [13] belegen dies eindruckvoll, und auch die Tatsache, daß in Japan alle Produktionsplanungs-Systeme (PPS) »entsorgt« wurden, spricht Bände. Die Produktion ist - auch unter kapitalistisch formierten fremdbestimmten Bedingungen - ein nichtdeterminierbarer Prozeß, und jeder Versuch, ein nichtdeterminierbares System zu determinieren, ist zum Scheitern verurteilt.

Auch wenn wir den Bogen weit spannten: wir wollten zeigen, daß gegenstandsinadäquate Grundbegriffe zu einem verfehlten theoretischen Konzept des Softwareentwicklungsprozesses in der Informatik führen, der in der Praxis konsequenterweise allzuoft scheitert. Diese zurecht als »Krise« bezeichnete Situation ist jedoch nicht nur durch Informatik-immanente Probleme und Fehler bedingt, sie ist vielmehr Ausdruck - so unsere erweiterte Hypothese - der »Krise« der Entwicklung der Produktivkräfte.

Verallgemeinerung: »Krise« der Produktivkraftentwicklung

Wo man auch hinschaut, »Krisen« überall. Auch in den imperialistischen Zentren übersteigt das Maß an ökonomischer, ökologischer, sozialer und psychischer Zerstörung ein Maß, das durch die durch das »Sozialprodukt« quantifizierte Steigung des »Wohlstands« nicht mehr kompensiert werden kann. Selbst die gesichtszerklüfteten Mitvierziger der konsumfreudigen Mittelschichten können ihren Genuß nicht mehr ungebrochen erleben. Nach der »Befreiung« der Zweiten Welt, die für diese nur den Abstieg in die Dritte bedeutet, wurden Destruktivkräfte entfaltet, wie sie nur von »verstaubten« MarxistInnen erahnt wurden - und auch das nur in Ansätzen. Die Probleme in ihren globalen Dimensionen scheinen unlösbar, die qualitative Menschheitsheitsentwicklung scheint zu stagnieren. Geschichte am Ende - der Rest ist Verteilungskampf. So jedenfalls werden die »Krisen« subjektiv widergespiegelt. Die subjektive Ratlosigkeit drückt sich aus in Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit, in Zukunftsangst und verzweifelten Aufrufen zu drastischen Einschränkungen in allen Bereichen. Untergangsstimmung und Askeseaufrufe lösen einander ab. Erinnert das nicht stark an Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen in der Geschichte?

Historisch tauchten diese Phänomene immer, wenn es nicht weiter zu gehen schien, auf - und dann ging es doch weiter, nur anders als bisher. Was veränderte sich bzw. wurde verändert, damit es weitergehen konnte? Der Mensch ging jeweils ein anderes Verhältnis zur Natur/Welt ein. Die Art und Weise seiner Auseinandersetzung mit der Natur/Welt änderte sich. Er betrieb eine neue Art und Weise der Produktivkraftentwicklung.

PK und PV

Was sind Produktivkräfte? Produktivkraft, oder präziser: Produktivkraft der Arbeit, wie es Marx im Kapital formuliert (vgl. MEW Bd. 23, 54), ist eine Kategorie zur Bestimmung des Stoffwechselprozesses des Menschen mit der Natur. Produktivkräfte sind ein System der Wechselwirkung sachlich-gegenständlicher und menschlich-subjektiver Elemente der Arbeit. Historisch unterscheidet man drei Klassen von Produktivkräften: a) die Entwicklung von Grund und Boden zur Lebensmittelgewinnung, bestimmend für die Gesellschaftsformationen (Produktionsverhältnisse) Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft und Feudalismus; b) die Entwicklung von Technik und Wissenschaft zur Lebensmittelgewinnung, bestimmend für die Gesellschaftsformationen Kapitalismus und Sozialismus; c) die entscheidende oder Hauptproduktivkraft jeder Gesellschaft sind die Menschen - ihre Entwicklung als (Haupt-) Produktivkraft war bisher für keine Gesellschaftsformation bestimmend. Die jeweils historisch überkommene Art und Weise der Produktivkraftentwicklung ist in der jeweils neuen aufgehoben. Der jeweilige Stand der Produktivkraftentwicklung bestimmt die dieser Produktivkraftentwicklung adäquaten Produktionsverhältnisse. Das bedeutet, daß die Einrichtung bestimmter Produktionsverhältnisse zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung historischen Menschheitsfortschritts sein muß.

Hauptproduktivkraft Mensch ...

Die gegenwärtige Art und Weise der Produktivkraftentwicklung, die Entwicklung von Technik und Wissenschaft an sich, ist an ihre produktiven Grenzen gestoßen. Unterm Strich führt diese zur globalen Zersetzung der menschlichen Lebensbedingungen [14] in all ihren Dimensionen: sozial, ökologisch, psychisch. Auslöser der globalen »Krise« ist sozusagen das Leben selbst, sprich das durch Fortschritt ermöglichte ungeheure Wachstum der Weltbevölkerung und die gestiegenen Bedürfnisbefriedigungsansprüche der Menschen. Es handelt sich also um ein globales ökonomisches Problem. Das aktuelle Niveau des Lebensstandards weltweit zu halten, geschweige denn, es zu heben, ist bei Beibehaltung der bestehenden Art und Weise der Lebensmittelgewinnung unmöglich geworden. PV und PK bilden heute zusammen die Grenze - eine Verengung nur auf die Änderung der Produktionsverhältnisse ist der Qualität und Globalität der Problematik nicht angemessen.

Alle, buchstäblich ALLE Lösungsvorstellungen und -versuche durchbrechen die der gegenwärtigen Art und Weise der Produktivkraftentwicklung immanenten Grenzen nicht, wie wir am Beispiel der Informatik aufzeigten. Der/die systemimmanente WissenschaftlerIn ist dazu in der Regel auch nicht in der Lage, denn das Denken wird von den Prämissen der Wissenschaft bestimmt - nicht er/sie bestimmt umgekehrt die Prämissen der Wissenschaft nach den Erfordernissen menschlicher Lebensqualität. Dies zeigten wir für den Softwareentwicklungsprozeß, in dem theoriebedingt die kapital-logische Position der Fremdbestimmung eingenommen wird und nicht die der bedürfnisorientierten Entwicklung. Dem steht nicht nur die eingespielte Arbeitsteilung entgegen und das grundlegende Problem des Privatbesitzes an Produktionsmitteln (was bedeutet, daß sich jede gegenwärtige Entwicklung an der Maxime der Profitrealisierung orientiert), sondern vor allem die totale, den Klassengesellschaftsverhältnissen geschuldete Unkenntnis der Menschen von sich selbst, also der Unkenntnis von der Hauptproduktivkraft Mensch, den Erfordernissen menschlicher Lebensqualität, den Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlich-vermittelt handelnder Individuen.

... an und für sich entfalten!

Nachdem die Menschen die Gesetzmäßigkeiten der Natur (außerhalb von sich) und die Gesetzmäßigkeit der Gesellschaft erkannt und zur Produktivkraft gemacht haben, bleibt der letzte qualitative Sprung der Menschwerdung zu tun: Die Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch an und für sich auf der Basis der Erkenntnisse der Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz. Die Verwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft muß die Naturwissenschaften, die Gesellschaftwissenschaften und die Individualwissenschaft als Einheit betreffen. Nachdem die Frage: Wo und wie kann man mehr Grund und Boden nutzbringend kultivieren? abgelöst wurde von der Frage: Wie kann Profit maximiert, Geld gescheffelt werden?, lautet heute die weiterführende Frage: Wie kann die individuelle Erlebnisfülle garantiert und erweitert werden - ganz und global?

Die Träger der Entwicklung von der Bodennutzung zur Nutzung von Maschine, Technik und Wissenschaft war eine sich zwischen den damaligen gesellschaftlichen Hauptklassen entwickelnde neue gesellschaftliche Klasse, die Bourgeosie. Sie bestand aus Individuen, die in der Lage waren, ihr Handeln nach der historisch neuen und weiterführenden Frage auszurichten. Die Träger eines heute neuen und weiterführenden Prozesses, der Entwicklung einer an den Erfordernissen individueller Erlebnisfülle ausgerichteter Produktivkraftentfaltung sind die Individuen, die sich die Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenz aneignen und sich in die Lage versetzen, ihr Handeln daran auszurichten. Sowohl die »Softwarekrise« wie »Krise« der Produktivkraftentwicklung insgesamt sind nur und ausschließlich überwindbar auf der Basis der Kenntnis und Anwendung des dialektischen und historischen und individualwissenschaftlichen Materialismus (wie er von der Kritischen Psychologie [15] erarbeitet wurde) und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer globalen Gesellschaftsveränderung.

Und nun?

Wir hören schon förmlich das Aufstöhnen der Leserin und des Lesers beim Lesen dieser Zeilen: was für ein Unsinn! Wie kann man die Erlebnisfülle für alle Menschen fordern angesichts des Zustandes der Welt - das würde die Erde nicht verkraften! Sicher - schreibt man die herkömmliche Art der Lebensmittelgewinnung in den produktiven Zentren einfach fort und weitet sie aus auf die weniger produktive Peripherie [16]. Doch: um maximale Entfaltung der Erlebnisfülle für sich zu kämpfen und globale Gesellschaftsveränderung, also das Ringen um einen qualitativen Sprung der Produktivkraftentwicklung und der Produktionsverhältnisse, sind identisch. Eine Nummer kleiner gibts den Fortschritt nicht.

Wie aber kann man sich selbst mit seinen Ansprüchen an Erlebnisfülle verallgemeinern, wo heute alle herkömmlichen Formen des Handelns im gesellschaftlichen Maßstab dysfunktional geworden ist und konkrete handelbare gesellschaftliche Alternativen nicht in Sicht sind? Es wäre verwunderlich, wenn wir diese für die Linke zentrale Frage in Form eines Rezepts beantworten könnten. Lenin schuf eine Partei neuen Typs. Heute geht darum, analytische Instrumente, Denkwerkzeuge, zu schaffen, um die eigene Situation analysierbar zu machen und ihr gemäß zu Handeln - im Alltag, in den Kämpfen vor Ort und international. Eine dieser Leitfragen könnte die nach der subjektiven Funktionalität des eigenen Tuns sein, also die Frage nach den Gründen des eigenen Handelns. In den Gründen sind sowohl die objektiven als auch die subjektiven Bedingungen und Ziele enthalten. Konsequent und theoretisch fundiert gefragt, wäre so der Grad an Durchdringung und Verallgemeinerung erreichbar, der heute in erster Linie erforderlich ist. Subjektive Verallgemeinerung geht nicht von außen. Sie können nur die leisten, die handeln, die kämpfen: "Guck in den Spiegel, dann siehst du ein revolutionäres Subjekt oder du siehst keins." [17]

_________________

[1] vgl. Sammet, J. (1991), Some Approaches to, and Illustrations of, Programming Language History, Annals of the History of Computing, 13, S. 33-50.

[2] Viel zitiert ist auch die Untersuchung der US-Regierung, nach der für 47% der Projekte Zahlungen geleistet werden, ohne daß jemals Ergebnisse abgeliefert wurden, bei 29% der Projekte die abgelieferten Ergebnisse nie zum Einsatz kamen, bei 19% die Projekte abgebrochen oder weitgehend umdefiniert worden sind und nur bei 2% die Projektergebnisse so verwendet wurden, wie sie geliefert wurden (3% keine Angaben; nach Financial Times, 23.1.89).

[3] "Hauptursache ist zunächst ein schwaches Projektmanagement. Fehlende Kontrollen, fehlende Projektnachbereitungen, unklare Kompetenzen unter den Entwicklern, steigender Kommunikationsaufwand bei vielen Projektbeteiligten und fehlende Qualitätssicherung sind erfolgkritische Faktoren." Raasch, J. (1993), Systementwicklung mit strukturierten Methoden, München/Wien: Hanser.

[4] vgl. Friedrich, J., "CASE-Tools und Software Factories - Software-Entwicklung als Fabrikarbeit?", in: Trautwein-Kalms, G. (1992, Hrsg.), KontrastProgramm Mensch - Maschine. Arbeiten in der HighTech-Welt, Köln.

[5] "Projektmanagement bedeutet Führung. Ein basisdemokratischer Ansatz ist völlig fehl am Platze." ebd.

[6] Das drückt sich z.B. in der Bezeichnung "computer science" im englischen Sprachraum aus.

[7] Auch marxistische Wissenschaft hat hierzu bislang keine den bürgerlichen Rahmen überschreitenden Ansätze erbracht.

[8] Shannon, C. E. (1948), The mathematical Theory of Communication.

[9] Holzkamp, Klaus (1983), Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main: Campus, S. 61.

[10] Daß im Kapitalismus der Tauschwert primär, der Gebrauchswert aber nur sekundär (gleichwohl aber nichtnegierbar) interessiert, ist in dem diskutierten Zusammenhang zunächst einmal sekundär.

[11] Einer der wenigen, die das theoretisch faßten, ist Wolfgang Coy in "Brauchen wir eine Theorie der Informatik?", in: Schaaf, J. (1990, Hrsg.), Die Würde des Menschen ist unverNETZbar, Bonn: FIFF e.V., S. 198.

[12] Dies ist auch der Grund, warum die »maschinelle Übersetzung« dort an eine unüberwindbare prinzipielle Grenze stößt, wo die Abbildung von einer Sprache in eine andere nicht mehr als formalisierbare Regel, sondern nur noch über die Bedeutung des zu übersetzenden Satzes geleistet werden kann (was dem Menschen vorbehalten ist).

[13] CIM übersetzt: computerintegrierte Fertigung.

[14] Einerseits werden zwar Lebensmittel (im unmittelbaren Sinne) produziert, jedoch mit den Folgen der Zerstörung der ökologischen Grundlagen etc., also der Entziehung der Lebensgrundlagen.

[15] In Fußnote 5 ist zentrale Werk genannt, das in der Theorieentwicklung der Kritischen Psychologie einen gewissen Kumulations- und Bezugspunkt darstellt, keinesfalls aber allein steht.

[16] Wie deutlich wurde, bestreiten wir überhaupt eine Zunahme der Lebensqualität auch in den »Zentren«. Oder entsprechen hochproduktiv hergestellte Hollandtomaten unseren Ansprüchen an sinnlich-vitaler Erlebnisfülle? Oder etwa Aktivkohlefilter in Autos, damit wenigstens die Luft im Auto nicht unmittelbar schädigend ist?

[17] Karl-Heinz Dellwo, Gefangener aus der RAF in der JVA Celle in einem KONKRET-Gespräch (Heft 6/92).