Kapitel 3
Partizipative Systementwicklung – Restriktive Handlungsfähigkeit

Einleitung

Die bisherige Erörterung hat auf einem sehr allgemeinen Niveau einen Begriff von menschlichem Handeln gewonnen. Dieser Begriff läßt sich als ahistorisch, überzeitlich bezeichnen. Die jedem menschlichen Handeln gemeinsamen Momente sind mit ihm bestimmt. Durch das Bedeutungskonzept ist am allgemeinen Modell der Ort von Gesellschaftlichkeit benannt. Eine historisch bestimmte Gesellschaft wie Feudalismus, Japan nach 1945 …, ist damit nicht erreicht. Hier liegt die Aufgabe dieses Kapitels – Konkretisierung des Ansatzes für eine bestimmte Form menschlichen Handelns in einer konkreten Gesellschaft.

In Auseinandersetzung mit der Partizipativen Systementwicklung (PSE) soll die entwickelte Begrifflichkeit ausgebaut werden. PSE ist immer schon Theorie eines realen Entwicklungsprozesses und hat es mit der ganzen Reichhaltigkeit realer Subjektivität zu tun. Ihr Subjektbegriff ist damit kein ‘reiner’, der in der ‘Anwendung’ erweitert wird, sondern ein angewandter, der in der Betrachtung gereinigt wird. So stellt PSE eine Gegenbewegung zum im letzten Kapitel untersuchten Ansatz dar. Ich versuche Aussagen aus Untersuchungen zur PSE aufzusammeln, die sich auf Subjektivität beziehen. Ich hoffe damit ein Stück weit das Verhältnis konkretes Subjekt und gesellschaftliches Umfeld aufzuklären.

Ein Problem entsteht durch den anderen Aufbau, den Praxisbezug der Partizipationstheorien. Besitzt die HRT so etwas wie einen Kern, der die Auseinandersetzung mit ihr strukturiert, so existiert die Theorie der PSE nicht. War es im letzten Kapitel die Auseinandersetzung mit den tragenden Thesen der HRT, die die Betrachtung vorantrieb, so wird sich dieses Kapitel am Rande der PSE bewegen. Die Partizipation auf ihre Allgemeinheit hin betrachtet wird zu einer dünnen Theorie, die vielleicht allein in der Behauptung des ‘Daß’ der Beteiligung ihr gemeinsames hätte [1]. Insofern liegt ihre Stärke in der jeweiligen Ausprägung, und ein Votum für jegliche Partizipation kann als nichtssagend betrachtet werden. Das Problem, das damit gestellt ist, ist die Struktur der Auseinandersetzung. Da eine Arbeit an der Theorie der PSE sich verbietet, ist eine Struktur von außen an sie anzulegen. Beginnen werde ich mit einer kurzen Bemerkung zum Begriff der Partizipation. Sodann interessiert mich das ‘Durchbrechen’ realer Subjektivität im Prozeß der Partizipation. In den mir vorliegenden Arbeiten (s.u.) wird Subjektivität zum Thema, wenn sie als Widerständigkeit im Prozeß der Systementwicklung auftritt. Solange das Projekt gut läuft, verschwinden die realen Subjekte, um in Momenten des ‘Bruchs’ zum Gegenstand weiterer Erörterungen zu werden: Haltungen der Systementwickelnden, der Benutzenden werden erörtert, um sich im weiteren Verlauf auf sie zu beziehen. Diese Stellen werde ich als zweites aufsammeln, das Durchschimmern der Subjekte, die Widerständigkeit der Handelnden. Dann beschäftigen mich Deutungen dieser Phänomene unter den Stichworten Qualifikation und Wahrnehmung. Den Abschluß dieses Kapitels bildet eine Erörterung der Kategorie ‘restriktive Handlungsfähigkeit’, wie sie in der Kritischen Psychologie entwickelt wurde. Mit Bezug auf diese Kategorie – so scheint mir – wird es erst möglich, die Widerständigkeit der realen Subjekte zu begreifen.

Welches Material wird von mit untersucht? Die Absicht dieses Textes ist bescheiden. Nur die bundesrepublikanische Diskussion soll Thema werden. Der Einfluß der Arbeitskultur eines Landes auf die Art der Beteiligung an der Softwareentwicklung ist sehr groß. Rechtliche Normen, die Geschichte der Auseinandersetzungen, die politische Kultur der gesellschaftlichen Kräfte bilden einen ganz entscheidenden Faktor für die Art und Weise der Beteiligung. Aus diesem Grunde möchte ich die Debatte auf dem nordamerikanischen Kontinent ausklammern. Ich kenne sie zu wenig und mein spärliches Wissen von der dortigen Arbeitskultur läßt mich vermuten, daß es sich um andere Verhältnisse handelt. Japan fällt aus ähnlichen Gründen wie Nordamerika unter den Tisch. In westlich-wissenschaftlicher Manier wäre damit die Untersuchung auf Europa beschränkt. In Europa existiert eine entfaltete Beteiligungskultur vor allem in den skandinavischen Ländern. Diese scheiden für mich aus, da die dortigen Bedingungen vor dem Hintergrund eines anderen gesellschaftlichen Konsenses nicht vergleichbar sind: "Die Diskussion über Ziele, Modelle und Methoden der partizipativen Softwareentwicklung hat in Skandinavien eine langjährige, durch besondere Faktoren geprägte Tradition: Es besteht ein gesellschaftspolitischer Konsens, computertechnologische Innovation in industriellen und öffentlichen Arbeitszusammenhängen an dem Ziel der Wirtschaftsdemokratie zu orientieren." (Mehl 1989, 120) Die Bescheidung geht weiter. Ich habe im wesentlichen den Sammelband Beteiligungsorientierte Systementwicklung von Jansen u.a. zur Kenntnis genommen [2]. Ich hoffe allerdings – aller Bescheidung zum Trotz –, daß das von mir eingekreiste Phänomen allgemeinerer Natur ist.

Subjektivität in der Partizipation

Der Begriff ‘Partizipation’ drückt eine eigentümliche Mittelstellung aus. Der Duden (vgl. Duden) kennt ‘partizipieren’ als "von etwas, was ein anderer hat, etwas abbekommen; teilhaben". Ein Partizip – als vom gleichen Stamm wie ‘partizipieren’ gebildetes Wort – sei eine "Verbform, die eine Mittelstellung zwischen Verb und Adjektiv einnimmt; Mittelwort". Für die Softwareentwicklung heißt das, der eigentliche Prozeß läuft schon, er ist das etwas, das vorausgesetzt sein muß, damit Teilhabe einen Sinn hat [3]. Der Prozeß läuft schon und hat eigene Akteure "was ein anderer hat". Das partizipierende (!) Subjekt erleidet diese Teilhabe nicht, es ist selbst aktiv: "teilhaben", "Verbform". Das partizipierende Subjekt nimmt aktiv an einem Prozeß teil, dessen Akteur es ‘nicht eigentlich’ ist. ‘Nichteigentliche Subjektivität’ wäre die Begriffsform, die im folgenden aufzuklären wäre. Der Begriff der Partizipation besitzt auch einen eigenen politischen Charme: "Was den Begriff PSE wissenschaftlich vage macht, macht ihn politisch eigentümlich ansprechend: Indem PSE als Begriff das Subjekt des Gewährens den Arbeitenden überordnet und es zugleich ungenannt läßt, wird es den Benutzern des Begriffs möglich, in die Leerform Arbeitgeberseite, InformatikerInnen bzw. alle diese Subjekte gleichzeitig hineinzudenken." (Ohm 1989, 12f)

Eine Definition des Begriffs PSE würde lauten: Ein Software-Entwicklungsprozeß, bei dem die zukünftig mit der Software Arbeitenden und eventuell sogar die von ihr Betroffenen in die Entwicklung miteinbezogen, beteiligt werden. ‘Beteiligung’ drückt die im letzten Absatz diskutierte Problematik aus. ‘In die Entwicklung miteinbezogen’ stellt die frage nach dem Zeitpunkt. Hier spannt sich die ganze Weite verschiedener Beteiligungsmodelle auf. Den einen Pol bildet Partizipation, die mit der Beteiligung an der Veränderung von Arbeitsstrukturen beginnt und den gesamten Prozeß hindurch nicht abbricht. Den anderen Pol bildet eine Partizipation, die nur im letzten Stadium, der Einführung von Software, in der Regel aus Akzeptanzgründen [4], die unmittelbar Benutzenden miteinbezieht. Diese letzte Form wird von offensiven Vertretern einer Partizipation nicht mehr als solche bezeichnet [5].

Dieses dünne Allgemeinkonzept taugt nicht zur weiteren Interpretation, sind doch die Differenzen zwischen den jeweilig konkreten Modellen so groß, daß von Gegensätzlichem, das sich nur noch im Namen Partizipation berührt, gesprochen werden kann. Ich werde zu einer Patchworktechnik greifen: Einzelne Stimmen einzelner Artikel zum Thema Subjektivität, Widerständigkeit der Subjekte (s.o.). Problematisch ist hierbei, daß das Bild des Flicken im Teppich nicht unbedingt etwas mit dem Flicken in seinem eigenen Kontext zu tun haben muß. Der Flicken kann nur sehr begrenzt als Beleg betrachtet werden. In meinem Fall haben die Flicken eine Beispielfunktion, fungieren als Heuristik. Der gewonnene Zusammenhang ist selbstredend (die Montage ist ein eigenes Bild), er bedarf zwar des aufzeigenden Hinweises durch die Montage (das Material der Montage, dem die Montage rückwärts eine Bedeutung zuweist), nicht aber der Verifikation durch sie. Anders gesagt: Der Flickenteppich dient der Gewinnung eines Problems, der Ahnung einer Lösung – nicht mehr. Die Flicken werden anhand der Fragen ‘Initiierung des Prozesses’, ‘Einstellungen der Subjekte’ und ‘Auswertungen und Schlußfolgerungen’ montiert.

Initiierung des Prozesses. Die Initiative zur Systementwicklung ist kaum thematisiert. Es scheint, daß stillschweigend vorausgesetzt wird, diese käme nicht von den Benutzenden, sondern von außen. Eine der wenigen Aussagen: "In beiden Fällen [ein Schulinformationssystem und ein Bürgeramt, jh] kam die Initiative zur Beteiligung nicht von den Betroffenen, sondern die Betroffenen wurden von den Projektgruppen dazu aufgerufen und motiviert." (Mambrey u.a. 1989, 41) Die Frage der Initiative erscheint mir wichtig, da sie mit der hier erwähnten Motivation zusammenhängt. Ist ein Prozeß nicht von mir angestoßen, so muß ich von außen – von der Projektgruppe – motiviert werden [6]. Hätte ich einen Grund diese Entwicklung zu wollen, hätte ich sie selbst angestoßen, wäre ich durch meine Gründe motiviert und müßte nicht motiviert werden. Das ist überzeichnet, drückt jedoch das Problem aus, den Betroffenen deutlich zu machen, daß der ohne sie initiierte Prozeß für sie läuft und ihr Prozeß ist – eine Struktur der ‘nichteigentlichen Subjektivität’ (s.o.). Mambrey u.a. fahren fort: "Die Beteiligungsthematik war in allen Fällen durch die Projektinitiierung bereits festgelegt, die Beteiligungssituation war also durch Systementwickler oder Management vorgeplant." (ebd., 46) Mit der Initiierung ist eine Weichenstellung verbunden, so daß im Hinblick auf diese die Haltung ‘das ist nicht mein Prozeß’ eine zusätzliche Begründung erfährt. Oppermann stellt verallgemeinernd fest: "Beteiligung an der Entwicklung informationstechnischer Systeme ist weder verbreitete Praxis noch wird sie als explizite Forderung der Betroffenen artikuliert." (Oppermann 1989, 106) Festgehalten sei hier die Tatsache, daß die Initialproblematik den gesamten Prozeß der Beteiligung prägt. Auswirkungen dieses Problems für meinen Ansatz werden im nächsten Kapitel thematisiert.

Einstellungen der Subjekte. Mambrey vermutet: "eine wichtige Beteiligungsrestriktion in gegensätzlichen Orientierungen von Betroffenen, Systementwicklern und Management" (Mambrey u.a. 1989, 45). Dort wo die Subjekte widerständig werden, treten sie als Subjekte in Erscheinung. (Verwandlung des farblosen, flüchtigen, nichtthematisierten Akteurs in ein widerständiges Subjekt.) Diese sollen nun betrachtet werden. Zuerst die Sicht der Entwickelnden: "Das Fremdbild der Entwickler vom Benutzer trägt diesem Charakteristikum [‘nur die funktionale Systemgestaltung als Gegenstand von Betroffenenbeiträgen’] rechnung, indem er ihn als primär aufgabenorientiert, beschränkt interessiert und status-quo-verhaftet beschreibt." (ebd., 49) und "Dominieren bei der Gestaltung die Sichtweisen der Entwickler, so wird die bloße Automatisierungsfähigkeit zum ausschlaggebenden Kriterium." (Mehl u.a. 1989, 127) Jansen weist auf die problematische Situation der Entwickler hin: "Die Systementwickler fühlen sich dem Anspruch, Systeme unter Rationalisierungsgesichtspunkten zu entwickeln, die auch reibungslos und effektiv genutzt werden können und den Bedürfnissen der BenutzerInnen entgegenkommen, einerseits auf der Basis ihrer bisherigen Kenntnisse über Systementwicklungsmethoden und jeweilige Anwendungsbereiche und -probleme und andererseits einer ständig restriktiver werdenden Finanz- und Stellenpolitik in Bezug auf ihre Abteilung bei gleichzeitig anwachsendem Aufgabenvolumen kaum gewachsen." (Jansen u.a. 1989b, 64)

Trotz unterschiedlicher Projekte und Aufsätze, somit unterschiedlichen Entwickelnden, fällt eine gewisse Stimmigkeit auf. Das Bild, das die Entwickelnden von den Benutzenden haben, begründet, warum sie nur zur "funktionalen Gestaltung" konsultiert werden. Die Benutzenden/Betroffenen seien an anderem nicht interessiert, hätten somit auch keine anderen Beiträge zu liefern. Die Forderung, die Betroffenen umfassender ‘einzubeziehen’, wäre somit Unsinn. Vor dem Hintergrund des Betroffenen-Konservatismus ist von diesen keine Antwort auf die Frage nach dem ‘was denn automatisiert werden soll’ zu erwarten. Da sie status-quo-verhaftet sind, nehmen sie den Entwikkelnden den Sinn ihrer Arbeit. Die Praxis der Entwickelnden – "bloße Automatisierungsfähigkeit zum ausschlaggebenden Kriterium" – mutet dagegen fortschrittlich an. Sie sichert zum einen den eigenen Status, zum anderen handelt es sich bei dieser Praxis um das einzig mögliche Kriterium, da das andere, die Arbeit selbst, wegen deren Verkörperung und Verkrustung in Form der Betroffenen, entfällt.

Jansens u.a. Hinweis bezüglich der widersprüchlichen Anforderungen an die Entwickelnden, zeigt die Funktion des Betroffenenbildes auf. Es macht die Entwickelnden unter Bedingungen widersprüchlicher Anforderungen handlungsfähig, sichert eine gewisse handlungsnotwendige Kohärenz des eigenen Weltbildes. Jansen u.a. sprechen von: "fühlen sich … kaum gewachsen". Die Situation ist gefühlt, nicht erkannt, insofern nicht Ausgangspunkt der Überlegungen der Entwickelnden selbst. Sydow kommt abschließend zu einer ähnlichen Einschätzung der Einstellung und Aktivität der Entwicklenden: "Die Systemgestalter interpretierten ihre Aufgabe als ein rein technisches Optimierungsproblem und waren sogar darauf bedacht, die Arbeitsorganisation möglichst nicht anzugreifen, da dieses außerhalb ihrer Verantwortung gelegen hätte." (Sydow 1989, 21) Er deutet die arbeitsorganisatorische Enthaltsamkeit als in Verantwortungsstrukturen begründet: "Die Systemgestalter bemühten sich nicht um die Realisation ihrer Menschen- und Organisationsbilder, sondern bewältigten ihre Gestaltungsaufgabe in Form eines ‘muddling through’ unter den vom Management gesetzten Zeit- und Kostenrestriktionen (…)." (ebd., 26) Vielleicht handelt es sich dabei für sie ebenfalls um die einzige Strategie, mit ihrer widersprüchlichen Anforderungssituation fertig zu werden. Festgehalten werden soll an dieser Stelle die Orientierung der Entwickelnden am Maßstab der Automatisierungsfähigkeit – Technikautomatismus. Dieser Maßstab ist für sie funktional und für den gesamten Prozeß eine ‘Beteiligungsrestriktion’.

Nun zur Sicht der Benutzenden. "Umgekehrt blicken die Benutzenden mit einer gewissen Anerkennung und Hochachtung auf die Entwickelnden und vertrauen auf ihre Bereitschaft, auch für sie positive Systemgestaltungen zu realisieren …" (Mambrey u.a. 1989, 49) Mambrey spricht von einem "Passivierungseffekt". Weiter heißt es bei ihm: "Sie [die Betroffenen] überhöhten damit die Erwartungen an fachliche Vorleistungen der anderen Seite und fixierten die herausgehobenen Stellungen von Systementwicklern und Management im Systementwicklungsprozeß." (ebd., 48) Für die Arbeitsgestaltung formulieren Mehl u.a.: "Wird die Gestaltung vorrangig von der Anschauung der bisherigen Arbeitsabläufe der BenutzerInnen bestimmt, so werden die herkömmlichen Formen der Informationsverwaltung, z.B. Formblätter, unverändert in automatisierte Strukturen übersetzt." (1989, 127) und bezüglich des Technikbildes Mambrey u.a.: "Die Einstellungen der Betroffenen zur Informationstechnik waren im Tenor eher positiv geprägt. Sie beruhten wohl primär auf der verbreiteten öffentlichen Meinung über Computer, …" (Mambrey 1989, 47)

Eine gewisse Stimmigkeit fällt auch hier auf. Das Technikbild korrespondiert mit dem Vertrauen in die Entwickelnden. Das Vorurteil der Entwickelnden, die Benutzenden übersetzten 1:1 alte Arbeitsformen in neue, scheint tatsächlich begründet. Warum die Benutzenden diese Haltung einnehmen ist nicht benannt. Festgehalten werden soll hier nur die funktionale Struktur der betrachteten Einstellungen. Die Benutzenden schreiben den Entwickelnden eine wichtige Rolle zu, sichern das über ein bestimmtes Technikbild ab – das Vertrauen in die Entwickelnden ist in diesem Bild begründet, und sehen für sich nur die Möglichkeit den Status Quo (die alte Form der Arbeit) zu retten. Die Entwickelnden verhalten sich passend, sie nehmen die Zuschreibung auf, erweisen sich als Subjekte der Entwicklung und fixieren sich – begründet – auf die technische Dimension des Problems [7]. Der Diskurs von Entwickelnden und Benutzenden nimmt solch eine Gestalt an, daß er für beide Seiten Handlungsfähigkeit und Kohärenz absichert. Aus dieser Sicht – Funktionalität – spielt es keine Rolle, ob die wirkliche Haltung der Benutzenden, die wirkliche Rolle der Technik getroffen wird, einzig die Möglichkeit, mit dieser Einstellung handlungsfähig zu sein, bestimmt den Diskurs. Damit ist eine mögliche Deutung vorgelegt, die dem ‘falschen’ Handeln der Subjekte Sinn verleiht. Ob es sich wirklich so verhält, soll im weiteren geklärt werden.

Wie werden Auseinandersetzungen im Partizipationsprozeß seitens der Benutzenden/Betroffenen geführt? Sie werden in einem defensiven Konfliktschema bewältigt. Mambrey charakterisiert es so: "Die Arbeitnehmer griffen nicht zur individuellen oder kollektiven Gegenwehr [Anlaß waren negative Veränderungen durch neue Technik, jh], sondern hielten sich zurück oder geben sich zögernd kooperationswillig." (Mambrey 1986, 151) Bedrohungen werden, so Mambrey, abstrakt realisiert, jedoch nicht individuell: "Sie [Arbeitnehmer, jh] sahen die Bedrohung der Arbeitsplatzsicherheit durch Einführung von Datenverarbeitung, jedoch nicht für sich selbst, sondern als allgemeine Gefahr." (ebd.) Die Ebene der eigenen Arbeit wird als unpolitisch eingeschätzt. Konflikte werden nach oben delegiert: "Zur Konfliktlösung gibt es aber auf dieser Ebene [Abteilung, jh] keine Handlungsmuster oder Strategien außer der Delegation nach oben auf die betriebliche Ebene." (ebd.) Dieses Muster verhindert eine offensive Austragung des Konfliktes. Mehrere Sicherheitsriegel schützen vor eigener Aktivität: ‘Ich selbst bin nicht betroffen’, ‘auf meiner Ebene kann nichts getan werden’, ‘ich kann das Problem nur delegieren und bin dem Urteil ausgeliefert’. Mambreys Gesamturteil ist klar: "Zusammenfassend läßt sich eine phänotypische, individuelle und defensive Situationsdefinition der Innovation bei den Arbeitnehmern feststellen." (ebd., 153) Der rote Faden der Haltungen findet sich in ihrer Funktionalität, im Verhindern von Auseinandersetzungen.

Soweit die ‘Einstellungen des Subjekte’. Deutlich ist, daß Subjektivität, das eigene Verhalten, die Einstellungen von Benutzenden und Entwickelnden als "Passivierungseffekte" (Mambrey u.a. 1989, 49) und "Beteiligungsrestriktionen" wahrgenommen werden. Die Subjekte stehen dem Partizipationsprozeß zum Teil im Weg (nichteigentliche Subjektivität). Die Entwickelnden verhindern durch Technikautomatismus und die Benutzenden durch Konservatismus die möglichen Veränderungen. Die Benutzenden schreiben den Entwickelnden die entscheidende Rolle zu (‘die werdens schon machen’, ‘sie sind die Experten’) und halten an angestammten Arbeitsformen fest. Diese sich gegenseitig stützenden Muster scheinen sehr stabil. Zudem beherrscht ein Konfliktmodell die Szene, das jede wirkliche, offensive Lösung verhindert [8]. Das ist das Szenario, das meine selektive Lesart den Berichten entnimmt. Bevor ich fortfahre zu erwägen, ob die Entwickelnden ‘wirklich so sind’, sei folgendes als verallgemeinernde Ausgangsfrage festgehalten, an ihr haben sich dann die weiteren Erörterungen abzuarbeiten: ‘Warum nutzen die Subjekte die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht?’ [9]

Auswertungen und Schlußfolgerungen. Was wird im erwähnten Sammelband diskutiert, um die Problematik der widerständigen Subjekte aufzuklären? Ich werde mich auf zwei zentrale Beiträge zu den Themen ‘Qualifikation’ und ‘Wahrnehmung’ beziehen. Insofern die Partizipationssituation verbessert werden soll, müssen die Aufsätze direkt oder indirekt Antworten auf die Frage des letzten Absatzes geben.

Qualifikation zum Abbau falscher Einstellungen wäre die erste Überlegung, um mit dem Dilemma der Situation umzugehen. Der zentrale Aufsatz zum Thema Qualifikation Computer fallen nicht vom Himmel, oder wie kommt der PC auf den Schreibtisch von Frieda Meyer? von Johannes Schnepel-Boomgaarden gewinnt sein Qualifikationsmodell in Auseinandersetzung mit anderen: "Das Ergebnis persönlicher Nachfragen [nach anderen Qualifikationsmodellen anderer Projekte, jh] ist meistens, daß man im jeweiligen Projekt versuchte, mehr unsystematisch mit einigen Vorträgen und nach bestem Wissen und Gewissen ‘die Kollegen schlau zu machen’.

Angesichts der Komplexität der IuK-Technik und ihrer weitreichenden Folgen für das jeweilige Arbeitssystem kann ein solcher Ansatz tatsächlich die Betroffenen nicht zur Beteiligung befähigen. Das oberste Lernziel bei zunehmend verteilten und vernetzten EDV-Systemen in Büro und Verwaltung muß die Befähigung zur Arbeitssystemgestaltung sein, und dies erfordert gleichermaßen andere Inhalte als auch andere Lernformen." (Schnepel-Boomgaarden 1989, 134) Oberstes Lernziel sei die Arbeitssystemgestaltung. Diese sehr grundsätzlich klingende Aussage macht das oberste Ziel des Projektes, Arbeitssystemgestaltung – zum obersten Lernziel der begleitenden Qualifizierung. Diese Aussage ist in jedem Fall richtig, zumindest solange die Lernzielgewalt bei der für die Arbeitssystemgestaltung engagierten Gruppe liegt. Terminologisch sauberer wäre es von Lehrzielen zu sprechen [10]. Die Frage, welchen spezifischen Beitrag Qualifikation im Kontext von Arbeitssystemgestaltung spielen kann, ist damit allerdings nur wiederholt, bestenfalls gestellt. Schnepel-Boomgaarden kommt auf den Technikdeterminismus [11], einen Passivierungseffekt, zu sprechen: "Qualifizierungskonzepte für Beteiligung sind deshalb [Technikdeterminismus] ganz wesentlich daran zu messen, was sie zur Überwindung der gesellschaftlich erworbenen, technikorientierten Haltung leisten, um so überhaupt Gestaltungsperspektiven in das Blickfeld der Beteiligten zu rücken." (ebd., 136) Operiert wird mit dem Begriff Haltung. Er spricht von technikzentrierter Haltung. Diese sei gesellschaftlich erworben. Sie ist somit nicht im betrieblichen Umfeld erworben und dort funktional, verankert, sondern gesellschaftlich – was den Betrieb ja auch einschließt, aber die konkrete Ursache im Dunkeln läßt. Der Technikdeterminismus ist eine Haltung, deren Gründe gerade keine Rolle spielen (sie liegen ja im Dunkeln), die trotzdem überwunden werden muß. Da hier nicht nach dem Warum [12] gefragt wird, steht von vornherein fest, daß die Haltung falsch ist und nur die Sicht auf die Gestaltung verstellt [13].

Schnepel-Boomgaarden stellt fest, daß Qualifikation kein weißes Blatt beschreibt: "Tatsächlich ist Qualifikation für Beteiligung in einer reaktiven Position, die die längst erworbenen Bilder von Technik und Beteiligung der Arbeit auf ihre Stimmigkeit hinterfragt, damit überhaupt Gestaltungsmotivation entsteht." (ebd., 150) Bilder werden hinterfragt, damit Motivation entsteht. Ganz klar sind hier die Qualifikatoren in der Rolle der Subjekte. Sie hinterfragen die Bilder ihrer Qualifikationsobjekte, um dadurch an diesen Motivation entstehen zu lassen, die diese dann zum Subjekt macht. Das Bild gleicht einer Blechente, die – sobald aufgezogen – loswatschelt. Dadurch, daß der Prozeß grammatisch zum Subjekt wird, verschwimmt die Aussage, der Sachverhalt ändert sich nicht. "Die nicht einkalkulierten ‘Vorbilder’ zu den Inhalten erweisen sich im ersten Schritt als Wahrnehmungs- und im zweiten Schritt als Handlungsbarrieren. Die Qualifizierungsziele wurden durch das einfache Interpretationsmuster ‘interessant, aber unrealistisch’ unterlaufen." (ebd.) Die Widerständigkeit der Haltungen wächst, wenn diese nicht bekannt sind. Diese müssen demnach ent-deckt und vermessen werden. Absichtlich, mit dem Trick ‘interessant, aber unrealistisch’, unterlaufen die Qualifikanten die Ziele. In der sprachlichen Form agieren Interpretationsmuster (deren Subjekt verdeckt ist). Für meine Fragestellung ‘Warum… ?’ ist nichts gewonnen. Warum fragt nach Gründen. Mit der Qualifikation ist zwar eine Gegenstrategie konzipiert, jedoch ohne die Frage der Gründe explizit zum Gegenstand zu machen. Das die realen Subjekte widerständig sind, ist wesentlicher Punkt der Betrachtung, hebt hier doch gerade die Überlegung in Auswertung bisheriger Qualifikationsstrategien an. Da die Widerständigkeit in Form von agierenden Haltungen, Interpretationsmustern und Lernzielen gefaßt ist, wird das dahinter liegende Lernsubjekt ausgeblendet. Seine Gründe sind nicht Thema, es ist eher als Opfer seiner (?) Haltung konzipiert. Für die Frage nach dem Warum ist damit nichts gewonnen [14].

Den für meine Überlegungen weitreichendsten Ansatz entwickelt Jörg Sydow. "Die zentrale These dieses Beitrags lautet, daß bei der Einführung neuer Bürotechnologien ‘objektiv’ bestehende Organisationsspielräume u.a. deshalb nicht wahrgenommen (i.S.v. genutzt) werden, weil sie vom Management und den Systemgestaltern einschließlich den Organisatoren nicht wahrgenommen (i.S.v. perzipiert) werden." (Sydow 1989, 23) [15] Sydow versucht aufzuschlüsseln, warum die Spielräume nicht wahrgenommen werden. Er bezieht sich dabei explizit auf die Kategorie ‘Subjektivität’ und versucht psychologische und soziologische Theorien, individuelle und objektive Faktoren zu vermitteln: "Über die Kategorie des Verhaltens und unter Bezugnahme auf ‘objektive’, vorgegebene Organisationsspielräume wird der Subjektivität menschlichen Verhaltens bei der Arbeits- und Organisationsstrukturierung Geltung verschafft. Auf diese Weise wird methodologisch eine ‘Brücke’ zwischen deterministischen Ansätzen der frühen Industriesoziologie und den voluntaristischen Ansätzen der Organisationspsychologie geschlagen." (ebd., 23f) ‘Subjektivität’ wird auf die Kategorie ‘Verhalten’ abgestützt [16]. Ob damit ein Rückfall in den Bedingtheitsdiskurs zu verzeichnen ist und besser mit der Kategorie Handeln vom Subjektstandpunkt aus zu operieren wäre (vgl. Kapitel 1), muß sich jetzt erweisen. "Die tatsächliche Situation der Systemgestalter wirkt selbst, z.B. vermittelt über Lernprozesse, auf ihre Wahrnehmung der Organisationsspielräume ein." (ebd., 27) Die Frage läßt sich konkret stellen: Ist der Zusammenhang Arbeitssituation-Wahrnehmung kausal gefaßt, so daß er sich ‘hinter dem Rücken der Systemgestalter’ vollzieht, oder ist er als ein Zusammenhang der ‘vernünftigen Weise’, als begründete Handlung eines Subjekts konzipiert. Sydow entwickelt seinen Ansatz ausführlich: "Die sozial-kognitive Lerntheorie [Banduras, jh] legt nahe, daß im einzelnen … u.a. folgende subjektive Faktoren darauf einwirken, daß dieser Organisationsspielraum möglicherweise nur unvollkommen wahrgenommen wird:
– Die Konzeptualisierung der Wahrnehmung als aktiven, von Kognitionen gesteuerten Prozeß lenkt den Blick auf den Einfluß individueller Interessen, Motive und Werte (was nicht interessiert, wird nicht wahrgenommen). …
– Am Modell oder über Erfahrung erworbene, aber auch kulturell vermittelte oder intuitiv gelernte alltagssprachliche sog. implizite Organisationstheorien (…) beeinflussen ebenfalls nicht nur das Verhalten von Systemgestaltern, sondern bereits ihre Situationswahrnehmung." (ebd., 24) (Es folgt eine Aufzählung weiterer objektiver Faktoren.) Kognitionen steuern den Prozeß der Wahrnehmung. Kognitionen werden zum Subjekt dieses Prozesses. Nicht: ‘ich nehme aus den und den Gründen das wahr und das nicht’, sondern: ‘meine Kognitionen steuern meine Wahrnehmung’, ich bin somit nur Zuschauer dieses Prozesses – eigentlich gar nicht vorhanden. Da meine aktive Rolle verschwindet, kann ich meine Wahrnehmung nicht verändern. Wäre ich es, der etwas ‘nicht wahrnimmt, weil …’, hätte ich Zugriff auf das nicht Wahrgenommene haben können und hätte mich entschieden, könnte diese Entscheidung rückgängig machen. Sind es die Kognitionen, die die Wahrnehmung steuern, so ist die Frage nach dem ‘Warum’ nur verschoben: Warum steuern die Kognitionen die Wahrnehmung so? Diese Frage läßt sich ausgehend vom letzten Zitat beantworten: Weil die Interessen und Motive so sind! Wie sind sie? So, daß das, was nicht wahrgenommen wird, nicht interessiert. Interessen und Motive werden so zu Letztheiten, zumindest solange nicht weiter gefragt wird nach dem Warum der Interessen und Motive. Der Frage-Gegenstand wird verdinglicht, gespiegelt und zurückgeworfen [17]. Ebenso verhält es sich mit den alltagsweltlichen, impliziten Organisationstheorien: Entweder die Frage nach den Gründen des Subjekts gerade diese impliziten Organisationstheorien zu übernehmen, wird gestellt, dann hätte gleich nach der subjektiven Funktionalität gefragt werden können, oder die Organisationstheorien sind selbst am Werk [18] und das Subjekt verschwindet oder erleidet die Ereignisse. Konsequent ist dann Sydows Begründung der Partizipation: "Organisationsspielräume werden im Prozeß der soziotechnischen Systemgestaltung ‘entdeckt’. Die Möglichkeit zur Partizipation der Betroffenen in diesem Prozeß vergrößert die Chancen, daß vorhandene Organisationsspielräume auch tatsächlich perzipiert werden." (ebd., 30) Die ‘Entdeckung’ bleibt im Dunkeln, sie ereignet sich und die Partizipation sorgt dafür, das dieses Ereignis viele betrifft.

Sydows Ansatz läßt jedoch auch eine Reinterpretation zu. Niemand verbietet nach den Gründen der Individuen für Kognitionen, Motive, Organisationstheorien zu fragen. So gelesen hieße sein Ansatz: In der Arbeitssituation der Systemgestalter ist es für diese begründet, Organisationsspielräume nicht wahrzunehmen (im doppelten Sinne). D.h. die bisherige Suche wäre in die falsche Richtung gegangen. Es ginge nicht darum, die falsche Haltung der Gestalter zu korrigieren, damit diese endlich ihre Spielräume nutzen, sondern es wäre zu verstehen, warum es aus ihrer Sicht richtig ist, sich so defensiv an der Partizipation zu beteiligen. Die Unterstellung ‘sie irrten’ wäre durch die ‘sie hätten Recht’ zu ersetzen und diese widersprüchliche Konstellation wäre zunächst einmal angemessen zu rekonstruieren.

Ein kurzes Resümee. Partizipation ist schon als Begriff ein Problem. In ihm verbirgt sich ‘uneigentliche Subjektivität’. Die Initialisierung von Partizipationsprozessen erweist sich oftmals als von außen kommend. Die Initiative liegt nicht bei den Akteuren. Die ‘uneigent-liche Subjektivität’ zeigt sich im realen Prozeß der Partizipation als Widerständigkeit: Beteiligungsrestriktionen und Passivierungseffekte, Technikautomatismus und Benutzenden-Konservatismus. Übereinstimmend stellen mehrere Projekte diese Phänomene fest. Die Lösungsansätze Qualifikation und Wahrnehmung bieten Modelle an, die das Subjekt, mithin seine wirklichen Gründe, außen vor lassen, somit das Problem nicht erklären, zu kurz greifen. Anschließend an Sydow läßt sich, zum Teil gegen ihn, die Frage neu stellen, indem davon ausgegangen wird, die Akteure irrten gar nicht. Zugespitzt hieße das, es gibt ein wohlbegründetes Interesse die Partizipation zu unterlaufen. Eine Perspektive, die sich mit der Ausgangsfragestellung der Aufsätze, Optimierung von Partizipationsprozessen, nicht verträgt und eine Optimierung den eigentlichen Prozeß schon immer voraussetzt. Vielleicht kann Partizipation, unter den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, nie anders als ‘uneigentliche Subjektivität’ stattfinden? Sie wäre dann nur ein anderer Modus der Normalform ‘fremdbestimmte Arbeit’ und nicht ihr Gegenteil.

Der Begriff der restriktiven Handlungsfähigkeit

Die Konstellation, die es nun zu untersuchen gilt (Handeln gegen die eigenen Interessen) läßt sich mit den bisherigen Mitteln nicht erfassen. Da gerade hier einer der Hauptpunkte der weiteren Betrachtung liegt, soll die zugrundeliegende Handlungsstruktur genauer erfaßt werden. Die Handlungsstruktur ist widersprüchlich. ‘Ich’ handele gegen meine Interessen. Dieser Widerspruch ist ein anderer, als der in Kapitel 2 behandelte. Individuelle und gesellschaftliche Dimensionen des Handelns ließen sich dort durch den Bezug auf Bedeutungsstrukturen verschränken (Jäger-Treiber-Beispiel). Der Widerspruch im zweiten Kapitel löste sich zeitlich auf: ‘Ich’ handle (kurzfristig) gegen meine Interessen, um sie langfristig zu verwirklichen. In diesem Kapitel löst sich das Problem nicht langfristig auf. ‘Ich’ nehme Chancen zur Gestaltung meiner Arbeit, zur Veränderung der Organisation meines Betriebes nicht wahr. Um das Problem besser zu verstehen, betrachte ich zunächst den Interessensbegriff. In ‘Ich handle gegen meine Interessen’ liegen zwei Interessensbegriffe undifferenziert beieinander: Ein Begriff der subjektiven Interessen, das was ich als meine Interessen erfahre, wahrnehme, definiere, der für den Subjektstandpunkt wesentlich ist, und ein Interessensbegriff dritter Person, ein objektives Interesse, das was meine Interessen sind, egal wie ich das selbst sehe [19]. Die Kritische Psychologie löst diese Problematik so auf, daß "ich mit der Handlung zwar im Widerspruch zu meinen objektiven Lebensinteressen stehen [kann], nicht aber im Widerspruch zu meinen menschlichen Bedürfnissen und Lebensinteressen, wie ich sie als meine Situation erfahre." (GdP, 350) Das führt zum Begriff des ‘materialen Apriori’: "In dem Satz, daß der Mensch sich nicht bewußt schaden kann, liegt sozusagen das einzige materiale Apriori der Individualwissenschaft …" (ebd.) Eine Position, die feststellt, daß die Benutzenden sich falsch verhalten, daß sie gegen ihre Interessen handeln, ist damit relativiert. Aus der Perspektive dieser Subjekte liegt ihr Handeln in ihren Interessen.

Der Ausdruck "sich nicht bewußt schaden" zu können ist nicht physisch zu verstehen. Der Bezug des ‘Schaden-Könnens’ sind die eigenen Bedürfnisse, wie ich sie erfahre. Insofern widerlegt selbst ein Selbstmord nicht das "materiale Apriori der Individualwissenschaft". Es ist der einzige methodologische Grundsatz, der an der Frage des Selbstmordes nicht scheitert. Für das Subjekt muß der Selbstmord begründet, in seinem Interesse gewesen sein. So läßt sich die Frage nach den Gründen erst stellen. Nur wenn ich unterstelle, daß meine Gründe und mein Handeln nicht völlig auseinandergerissen sind, macht es Sinn nach den Gründen zu fragen. Genau das soll das Apriori ausdrücken. Die Alternative dazu wäre demnach nicht eine Konzeption, die Handlungen gegen mich selbst kennt, sondern eine, die nicht nach den Gründen des Handelns fragt [20]. Aus dieser Perspektive wird der Begriff Funktionalität ‘meines’ Handelns gewonnen: "So gesehen ist also jede Handlung, soweit ich sie bewußt und ‘begründet’ vollziehe, für mich ‘funktional’; aus dem inhaltlichen Bedürfnisbezug von Handlungsgründen bestimmt sich mithin unser Funktionalitätsbegriff in seiner subjektwissenschaftlichen Spezifikation." (GdP, 350) Mein individueller Begründungsraum ist für mich funktional! Aus dieser Perspektive (Funktionalität) erschließt sich das Handeln eines Subjekts. Das Problem der Widersprüchlichkeit hat somit eine Veränderung erfahren: "Die unterschiedlichen, widersprüchlichen Erscheinungsformen des Psychischen ergeben sich somit allein aus der Unterschiedlichkeit bzw. Widersprüchlichkeit der ‘Prämissen’, auf denen der jeweils individuelle Begründungszusammenhang beruht, und mit Bezug auf welche er subjektiv ‘funktional’ ist." (ebd., 352) Der Blick auf die widersprüchlichen Handlungen der Benutzenden wird auf die Prämissen ihres Handelns gelenkt. Für sie ist es begründet, funktional die Gestaltungsspielräume nicht zu nutzen.

Was sind das für Bedingungen, unter denen es subjektiv begründet ist, Spielräume nicht zu nutzen? Holzkamp entwickelt für die Aufschlüsselung derartig selbstschädigender Handlungsweisen das Begriffspaar verallgemeinerte/restriktive Handlungsfähigkeit: "Die prinzipielle Lebensproblematik, die damit konzeptualisiert werden sollte, ist der Umstand, daß unter den Vorzeichen der ‘Bedrohtheitszentrierung’ mit kurzschlüssigen, ‘restriktiven’ Begründungsfiguren im Versuch der Lebensbewältigung/Bedrohungsabwehr in widersprüchlicher Weise gleichzeitig die eigenen, verallgemeinerbaren Lebensinteressen verletzt werden können." (Holzkamp 1990, 38) und "Es [das Begriffspaar, jh] bildet die kategoriale Grundlage für die theoretische Konzeptualisierung typischer Denk- und Praxisfiguren, mit welchen unter bestimmten gesellschaftlich-institutionellen Bedingungen Lebensproblematiken unter dem Druck unmittelbarer Bedrohung oder Bedürftigkeit in einer Weise zu bewältigen versucht werden, durch welche die Widersprüche und Dilemmata, die man überwinden will, unbewußt selbst verstärkt und perpetuiert werden." (ebd., 43) Die in den Begriffen "Bedrohung" und "gesellschaftlich-institutionellen Bedingungen" anwesende Gesellschaftsanalyse soll hier nicht nachvollzogen werden [21]. Nur soweit Begründungsfiguren untersucht werden, rückt die untere Ebene von Gesellschaft im weiteren in den Blick. Dort ist der Ort Bedrohungen konkret zu benennen, zu analysieren.

Holzkamp versucht mit dem Begriffspaar verallgemeinerte/restriktive Handlungsfähigkeit nicht eine Typologie von Menschen zu entwickeln. Der eine Mensch ist ein Held – verallgemeinerte Handlungsfähigkeit, der andere ein Opportunist – restriktive Handlungsfähigkeit. Es handelt sich um ein analytisches Begriffspaar, das zwei Pole benennt, die für die Analyse von Begründungen konzipiert sind. Dabei ist restriktive Handlungsfähigkeit der ‘normale’ Modus und verallgemeinerte ein Moment der Durchbrechung. Das kann unter gesellschaftlichen Bedingungen, über die die Verfügung dem Individuum entzogen ist, nicht anders sein. Nur punktuell kann es gelingen, die Bedingungen des eigenen Handelns zu bestimmen. In der Regel sind, insbesondere bei der Arbeit, die Bedingungen fremdgesetzt. Die Frage nach restriktiver Handlungsfähigkeit läßt sich als Frage nach der Verzahnung von fremdgesetzten Arbeitsbedingungen und ‘je individuellem’ Begründungsdiskurs reformulieren. Die Überwindung ist in der Einsicht der Verzahnung von Bedrohung und begründungsförmigen Arrangement tendenziell angelegt. Etwas allgemeiner gesagt: der betriebliche Binnendiskurs, als das Gesamt individueller Begründungen, ist ein kompliziertes Geflecht von Kräfteverhältnissen, Arrangement mit Vorgesetzten, Berufsgruppeninteressen und mit anderen Faktoren. Erst der Bezug auf ihn gestattet es dem Einzelnen, in diesem Raum handlungsfähig zu werden [22]. Jeder Versuch in dieses Ganze von außen einzugreifen – und Partizipation ist einer –, ohne den betrieblichen Binnendiskurs zu reflektieren, womöglich die vorgeschlagene Praxis nur an den objektiven Bedingungen des Arbeitsgegenstandes zu orientieren, erfährt die Subjektivität der Betroffenen als Widerständigkeit. Da der Binnendiskurs nicht frei liegt – das Unbewußte des Betriebes –, bzw. das Offenliegende seine Bestimmung nur im Gesamt des Diskurses erfährt – vergleichbar dem Eisberg, der zu 6/7 unter Wasser verdeckt sein Dasein fristet –, ist diese Aufgabe alles andere als trivial.

Um das analytische Instrumentarium zu verfeinern, entwickelt Holzkamp sein Begriffspaar verallgemeinerte/restriktive Handlungsfähigkeit für die verschiedenen Dimensionen des Psychischen weiter (vgl. GdP Kapitel 7). Diese Dimensionen sind Kognition, Motivation und Emotion. Sie sind Momente des Handelns des Menschen. Mit ihnen wird jeweils eine funktionale Seite des Mensch-Welt-Verhältnisses gefaßt. Demzufolge ist die Charakterisierung der Handlungsfähigkeit Bestimmungsgrund der einzelnen funktionalen Seiten, sie sind mithin doppelsinnig zu bestimmen. Für die Kognition entwickelt Holzkamp das Begriffspaar ‘Deuten’ und ‘Begreifen’. ‘Deuten’ steht für die oberflächliche Konstruktion von Zusammenhängen, ‘Begreifen’ für das Durchdringen eines Problems in Richtung seiner eigentlichen Dimension. Emotionen werden in ihrer restriktiven Variante als ‘Innerlichkeit’ gefaßt und Motivation restriktiv als ‘innerer Zwang’ charakterisiert. ‘Innerlichkeit’ meint das Erleben ‘meines Gefühls’ als ‘mein Problem’, das ‘ich’ zu lösen habe. ‘Innerer Zwang’ benennt das Erleben äußerer Zwänge als ‘eigene Interessen’, d.h. es ist eine Konstellation angesprochen, in der es begründet ist, die Äußerlichkeit eines Zwanges zu vergessen [23]. Zwischenmenschliche Beziehungen werden als ‘Instrumentalbeziehungen’ und ‘Intersubjektivität’ gekennzeichnet. Für all diese Bestimmungen gilt was oben über Handlungsfähigkeit gesagt wurde: sie sind keine Typologien, sondern analytische Bestimmungen; die restriktive Variante ist jeweils der Normalmodus. Ich werde die Bestimmungen einzeln nur dort entfalten, wo sie im weiteren in der Analyse hilfreich sein können. Hier sollte gezeigt werden, daß Bestimmungen, die für das Handeln gewonnen werden, aufgrund der Allgemeinheit der Handlungskategorie, wesentlich für die Bestimmung unterschiedlicher Dimensionen des Psychischen sind.

Mit diesen Bestimmungen ist das Problem terminologisiert, aber keineswegs gelöst. Der Gewinn liegt in der Sprache, die jetzt zur Verfügung steht. Über Phänomene des Psychischen kann so gesprochen werden, daß die durch Bedrohung/Fremdbestimmung erzeugte Widerständigkeit des Subjekts zur Hauptachse der Begrifflichkeit wird. Fremdbestimmung muß nicht nachträglich in Kategorien des Psychischen gefaßt werden, so daß das Psychische primär ist und die Fremdbestimmung als Druck von außen abgebildet wird. Das Psychische ist in Kategorien gefaßt, die doppelt charakterisiert sind, somit ist Fremdbestimmung als gleichursprünglich konzeptualisiert.

Ist damit die Frage ‘Warum nutzen Subjekte die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht?’ beantwortet? Nein, aber sie ist zum ersten Mal richtig gestellt: Was sind die Gründe, die die Subjekte haben, die ihnen zur Verfügung gestellten Möglichkeiten nicht zu nutzen? Was sind die Bedrohungen, die sie abwenden? Wie ist die betriebliche Situation, die es subjektiv funktional erscheinen läßt, Partizipationsprozesse zu unterlaufen? Das Subjekt wird in diesen Fragen nicht mehr übersprungen. Diese Fragen können ohne das Subjekt nicht beantwortet werden. Zudem ist mit der Kategorie der restriktiven Handlungsfähigkeit ein Instrument gewonnen ‘sich’ aus dieser Situation zu befreien, ist ein Ort gewonnen, an dem ‘gearbeitet’ werden kann: restriktive Begründungsmuster.

Meine Begrifflichkeit ist damit für konkrete Gesellschaften spezifiziert. Die allgemeinmenschliche Handlungsproblematik des zweiten Kapitels ist zu einer spezifischen, selbstschädigenden Begründungsfigur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Bedrohung geworden. Die Frage nach den widerständigen Subjekten, nach den Benutzenden, die die Gestaltungsspielräume nicht nutzen, und den Entwickelnden, die dem Technikfetischismus frönen, ist zu einer nach Begründungsfiguren und gesellschaftlich-institutionellen Bedingungen geworden. Damit ist in einer letzten Transformation die Frage meiner Arbeit gewonnen: Die Verknüpfung restriktiver Begründungsfiguren mit Arbeits- und Lebensbedingungen aufzuklären, um damit ‘je meine’ Handlungsfähigkeit zu vergrößern, ein Moment ‘je meiner’ Involviertheit in Herrschaft zu erkennen und es in der Tendenz zu überwinden. Notwendig ist es nun, die bisherigen Konzepte in einer Methode zu verdichten, die die Arbeitsaufgabe handhabbar macht. Dieser Frage ist das nächste Kapitel gewidmet.


[1] Gemeint ist damit das bloße Faktum der Partizipation: daß überhaupt Partizipation stattfindet. Der Gegensatz wäre das ‘Was’ der Partizipation, d.h. der Art und Weise der Partizipation.

[2] Volpert erwähnt den Band als Überblick für die "inzwischen … gute Tradition ‘partizipativer Software-Entwicklung’" in Deutschland (Volpert 1992, 176). Der Band enthält Beiträge verschiedener Gruppen, die sich im deutschsprachigen Raum mit Partizipation beschäftigen. Für meine Zwecke ist er besonders geeignet, da sein Schwerpunkt in der methodischen Reflexion besteht (Beiträge zu Methoden der Partizipation bei der Entwicklung computergestützer Arbeitssysteme lautet der Untertitel).

[3] Selbst in der extremsten Form der Teilhabe, der Teilhabe von Anfang an, schwingt ein passives Moment mit. Ein Ganzes besteht eben nicht aus den Teilen der Teilhabe, sondern der Begriff der Teilhabe setzt das Ganze (nur darauf kann sich ‘Teil’ beziehen) schon voraus.

[4] Wicke erwähnt "unternehmensorientierte[n] Konzepte von Benutzerbeteiligung": "Die bisherige (betriebswirtschaftlich orientierte) Praxis der Entwicklung von EDV-Anwendungen sieht eine ‘Beteiligung’ höchstens in der letzten Phase, in der eigentlichen Umstellung vor; eine solche Beteiligung dient dabei häufig lediglich dazu, die Akzeptanz der einzuführenden Systeme bei den Benutzenden sicherzustellen." (Wicke 1988, 119f)

[5] Vgl. bezüglich der unterschiedlichen Beteiligungsformen Peschke 1988, 207ff.

[6] Dieses Problem spitzt sich noch zu, wenn nicht nur ein Prozeß von außen initiert ist, sondern auch meine (!) Beteiligung schon beschlossene Sache ist.

[7] Das es nicht einmal die Entwickelnden sind, die die Technik gestalten verdeutlichen Mambrey u.a.: "Auch sie [Betroffene und auch ‘große Teile der professionellen Entwickler und Führungskräfte’] sahen primär die Eigendynamik technischer Entwicklungen am Werke. Technik wurde von allen Gruppen im Prinzip zwar als veränderbare Größe wahrgenommen, konkrete Anknüpfungspunkte für eine Gestaltung wurden aber nicht gesehen." (Mambrey u.a. 1989, 48) Technikentwicklung vollzieht sich durch die Subjekte hindurch. Sie haben das Gefühl nur etwas zu vollziehen.

[8] Ich beziehe mich damit auf die Partizipationsprozesse, die in irgendeiner Hinsicht problematisch sind bzw. die in ihrer Darstellung Probleme aufzeigen. Die Prozesse, die glatt ablaufen und als unproblematisch zu bewerten wären – mir scheinen sie in der Minderzahl – werden hier nicht problematisiert. Deshalb mag das Bild etwas zu negativ ausfallen.

[9] Korrigierend sei die Frage einmal bewußt von dem Standpunkt gestellt, von dem aus sie formuliert ist: ‘Warum scheint es den Betrachtenden so, als würden die Subjekte die Räume, die ihnen von Projektteams und Managern als ‘ihre Möglichkeiten’ zur Verfügung gestellt werden, nicht nutzen?’

[10] Mit der Differenz von Lernzielen und Lehrzielen schwindet auch das Subjekt des Lernens, bzw. es wechselt unter der Hand die Seite, um als Lehrer wieder aufzuerstehen.

[11] Der Glaube, Technik sei nicht zu gestalten, es gäbe den One-best-way, ist gemeint (s.o.).

[12] Warum nutzen Subjekte die ihnen zur Verfügung gestellten Möglichkeiten nicht?

[13] In einer ähnlichen Form findet sich der Konservatismus der Betroffenen wieder: "Als ‘gestandene Sachbearbeiter’ gehen diese aber davon aus, daß nicht ihr Handwerk zur Diskussion steht, sondern daß man sich im wesentlichen nur Zusatzwissen in bezug auf die neue Arbeitstechnik aneignen muß." (Schnepel-Boomgaarden 1989, 136) Sachbearbeiter sitzen auf ihrer Qualifikation und wollen nur ‘dazulernen’, nicht ‘umlernen’ oder ‘neulernen’, ihr angesammeltes Wissen nicht verändern, nur ergänzen. Diese Haltung ließe sich als Wissenskonservatismus kennzeichnen.

[14] Angemerkt sei, daß diese negative Bilanz nur aus der Perspektive meiner Frage zustandekommt. Das Qualifizierungskonzept scheint mir sehr spannend – nur es ist hier nicht Gegenstand.

[15] "Der latenten Doppeldeutigkeit des Verbs ‘wahrnehmen’ entspricht der theoretisch begründbare enge Zusammenhang von Wahrnehmung und Verhalten …" (ebd.)

[16] Sydow stützt sich explizit auf die sozial-kognitive Lerntheorie Banduras.

[17] Holzkamp diskutiert im Zusammenhang mit Banduras Lerntheorie die Motivationstheorie Heckhausens (vgl. Holzkamp 1993, 71f). In der ‘intrinsischen Motivation’ findet sich eine ähnliche Struktur, wie in den Interessen und Motiven in Sydows Argumentation.

[18] "Kulturell vermittelt oder intuitiv gelernte" macht deutlich, daß es sich um heimtückische "implizite Organisationstheorien" handelt. Diese treten dem Individuum nicht gegenüber und sagen ‘nimm mich oder laß es bleiben’, sie schleichen sich heimlich, ‘von hinten’ hinein, um unbemerkt ihr Werk zu verrichten. Diese Formulierungen stärken meine Lesart von Ereignissen jenseits des Subjekts.

[19] In der Spannung dieser beiden Begriffe liegt eine ganze ‘Philosophie der Politik’ verborgen. Isoliert stellen sie Opportunismus und Dogmatismus dar. Das Beschwören einer Dialektik beider, ohne ihre Vermittlungen zu kennzeichnen, bleibt ebenso folgenlos, wie die Determination ‘in letzter Instanz’. Hier liegt eine Differenz, die bis hinunter zum Konflikt im Betrieb politisches Handeln aller Ebenen verbindet.

[20] Spätestens an dieser Stelle regt sich ein Widerstand: und was ist mit dem Unbewußten? Seit Freud sei der Mensch "nicht einmal Herr im eigenen Hause" (Freud), somit wäre der Glaube an die Begründetheit unsinnig. Dagegen ist zweierlei einzuwenden. Erstens wird in diesem Verständnis das Unbewußte wie ein zweites Zentrum, neben dem Bewußten, behandelt. Das Unbewußte ist der eigentliche Lenker, das Bewußte nur Trug. So griffe jede Interpretation des Bewußten ins Leere, so wäre jeder Zusammenhang zerstört, denn ein eigenes Zentrum besitzt eine eigene Genese. Dagegen stünde ein Verständnis des Unbewußten, das es als das versteht, was zwischen den Zeilen des Bewußten steht. Das was den bewußten Text stimmig macht. In dieser Lesart wäre das Kontinuum Bewußtes/Unbewußtes betont (problematisch wäre die verdinglichende Redeweise von dem Unbewußten). Ich denke, auch Freud macht das Kontinuum stark: "Bestimmte seelische Vorgänge hätten sich normalerweise so weit entwickeln sollen, daß das Bewußtsein Kunde von ihnen erhielte. Das ist nicht geschehen, und dafür ist aus dem unterbrochenen, irgendwie gestörten Vorgängen, die unbewußt bleiben mußten, das Symptom hervorgegangen." (Freud 1969, 279) Zum zweiten Einwand. Die Begründetheit meines Handelns ist ein selbstreflexiver Begriff. Sie läßt sich auch auf sich selbst anwenden. Es mag begründet sein, daß ich gewisse Begründungen meines Handelns vergesse, verdränge. "Die Möglichkeit, den neurotischen Symptomen durch analytische Deutung einen Sinn zu geben, ist ein unerschütterlicher Beweis für die Existenz … unbewußter seelischer Vorgänge." (ebd., 278) Im Unbewußten liegt der Sinn der Symptome. D.h. in der Psychoanalyse Freuds wird gerade an der Begründetheit der Verdrängung festgehalten, sie ist das Mittel, um per Therapie den Zugang zum Unbewußten herzustellen. Das Konzept des Unbewußten ist keines gegen die Begründetheit des menschlichen Verhaltens, es versucht gerade das Irrationale in den Begründungsdiskurs hineinzunehmen.

[21] Hier handelt es sich um eine starke Voraussetzung, die psychologisch nicht eingeholt werden kann. Die Kritische Psychologie versteht sich in der Tradition des Marxismus. Bedrohung wäre dort ganz allgemein mit Entfremdung und der sozialökonomischen Kategorie der Ausbeutung charakterisiert. Die Ursachen werden wesentlich in den Produktivkräften verortet.

[22] Der berühmte Praxisschock ließe sich als Konfrontation mit dieser Arbeitssituation charakterisieren. Sein Inhalt wäre die Erkenntnis, daß für die Bestimmung des eigenen Handelns weniger am Gegenstand der Arbeit gewonnene – theoretische? – Einsichten taugen, als betriebliche Praxen, die ihre Bestimmung anders erfahren, deren Grund im Dunkeln liegt – das betriebliche Unbewußte. Die Evidenz dieser Praxen liegt in ihrer Verzahnung mit der Bedrohungssituation, die nicht ihren Inhalt bildet. So kann eine ‘Gewohnheit’, etwas so und so zu tun, zwar am Gegenstand unbegründet erscheinen, ihren Sinn jedoch aus Arbeitsteilungen zwischen Berufsgruppen, Vorgesetztenallüren oder ganz allgemein aus der Bedrohungsabwehr beziehen.

[23] Hier zeigt sich, daß die restriktive Seite des Gedächtnisses als ‘Unbewußtes’ charakterisiert werden kann. (Vgl. GdP, 376ff)