Stefan Meretz (Oktober 1999)
Produktivkraftentwicklung und Subjektivität.
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5. Zusammenfassung und SchlußfolgerungZwei Elemente kennzeichnen die hier vorgelegte Analyse: die inhaltliche Revitalisierung der Produktivkraft-Kategorie und die kategoriale Bestimmung des Vergesellschaftungsmodus über den Wertbegriff. Während in gängiger Weise Produktivkraft auf den Mittelaspekt (die Technik) als quantitative Größe (Produktivität) verengt wird, ist hier die Produktivkraft-Kategorie als Inhalt, Form und Produktivität der Arbeit gefaßt worden. In ihrer historisierten Form, als Produktivkraftentwicklung, lassen sich qualitativ unterscheidbare Entwicklungsstufen in der Gesellschaftsgeschichte voneinander abheben. Der Wertbegriff, insbesondere der Wert als "sich selbst" maßlos reproduzierender Wert, qualifiziert inhaltlich den gesellschaftlichen Vermittlungsmodus der Produktion und Reproduktion des Lebens. Der Wert ist die sachliche Form eines eigentlich sozialen Verhältnisses, alle gesellschaftlichen Aktivitäten gehen durch diesen Wert "hindurch", werden durch ihn vermittelt. Der Wert ist historisch mit dem ökonomischen und gesellschaftlichen System des Kapitalismus verbunden. Er strukturiert alle gesellschaftlichen Beziehungen, mithin auch die Arbeit und damit auch die Art und Weise der Produktivkraftentwicklung. Gleich entfremdeter Arbeit als abstrakter Arbeit für die Exekution der Wertselbstverwertung ist die entfremdete Produktivkraftentwicklung durch die automatische Wertmaschine präformiert. Historisch löste die entfremdete die personal-konkrete Produktivkraftentwicklung ab, die ihrerseits auf erweiterter Stufenleiter wiederum die Aufhebungsperspektive ist. Die alten Agrargesellschaften waren durch den personal-konkreten Vergesellschaftungsmodus bestimmt, dies jedoch in Form von personalen Zwangsverhältnissen wie Leibeigenschaft etc. Die Aufhebungsperspektive besteht in der freien Entfaltung der Menschen als Selbstzweck, die damit den "Selbstzweck" der Wertselbstverwertung ablöst. Aus der Perspektive der Produktivkraftentwicklung erscheint ihre entfremdete Form als Exkurs der Geschichte, die ihrerseits durch eine personal-konkrete Form aufgehoben wird und das "Rad der Geschichte" eine Umdrehung voran gebracht hat. Die Keimformen zur Negation der entfremdeten Produktivkraft entstehen bereits unter entfremdeten Vergesellschaftungsbedingungen, sie zeigen sich als "Ausstieg" aus dem Verwertungsmodus und durch Etablierung neuer Regeln, die an der Selbstentfaltung des Menschen und nicht an der Selbstverwertung des Werts orientiert sind. Ein Beispiel ist die weltweite Community zur Entwicklung freier Software wie dem Linux-Betriebssystem. Diese Keimformen zeigen jedoch nur die prinzipielle Möglichkeit auf, sie sind nicht identisch mit einem historischen Subjekt in alter Diktion. Ein solches historisches Subjekt im Sinne einer sozialen Klasse besteht nicht: Jede Artikulation von Interessen in Formen der Wertverwertung reproduziert gleichzeitig diese Bedingungen. Ob eine immanente Bewegung – etwa die klassische Arbeiterbwegung – die Bewegung in Formen des Werts selbst aufheben kann, ist ungeklärt und ohne Beispiel. Sie kann vorerst jedoch nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Weitere Debatten zur Klärung dieser "immanenten Variante" sind erforderlich.
6. Meta-Text6.1. Versionen-Geschichte
- Version 1.00: Grundlage für den Vortrag vom 22.10.1999 in Berlin Glißmann, W. (1999), Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und Mechanismen sozialer Ausgrenzung, in: Herkommer, S. (Hrsg., 1999), Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus, Hamburg: VSA Holzkamp, K. (1985), Grundlegung der Psychologie. Studienausgabe, Frankfurt/M.: Campus. Kelly, K. (1998), New Rules for the New Economy, New York: Viking Penguin; deutsch: Kelly, K. (1999), NetEconomy. Zehn radikale Strategien für die Wirtschaft der Zukunft, München: Econ. Klaus, G. u. Buhr, M. (Hrsg., 1976), Philosophisches Wörterbuch, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut. Kurz, R. (1997), Antiökonomie und Antipolitik, in: Krisis 19, Bad Honnef: Horlemann, Internet: http://www.magnet.at/krisis/krisisartikel/kurz19.html Marx, K. (1976), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Frankfurt/Main: Verlag Marxistische Blätter. Identisch mit Marx-Engels-Werke, Band 23, nach der von Friedrich Engels 1890 in Hamburg herausgegebenen vierten Auflage. Marcuse, H. (1967), Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied: Luchterhand. Meretz, S. (1999a), Die doppelte algorithmische Revolution des Kapitalismus - oder: Von der Anarchie des Marktes zur selbstgeplanten Wirtschaft. Internet: http://www.kritische-informatik.de/algorev.htm. Meretz, S. (1999b), Linux - Software-Guerilla oder mehr? Die Linux-Story als Beispiel für eine gesellschaftliche Alternative. Internet: http://www.kritische-informatik.de/linuxsw.htm. Peters, K. (1999), "Woher weiß ich, was ich will?" Die Abschaffung der Stempeluhr bei IBM, in: ak - analyse & kritik 431, 21.10.1999. Internet: http://www.akweb.de/ak_s/ak431/05.htm. Schlemm, A. (1996), Daß nichts bleibt, wie es ist...: Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung, Band I: Kosmos und Leben, Münster LIT. Schlemm, A. (1999), Daß nichts bleibt, wie es ist...: Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung, Band II: Möglichkeiten menschlicher Zukünfte, Münster LIT. Warnecke, H.-J. (1996), Die Fraktale Fabrik. Revolution der Unternehmenskultur, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch. 6.3. Anmerkungen [3] Was die Vorstellung von der "Neutralität der Technik" anrichten kann, durfte ich 1988 bei einem Delegationsbesuch in einer Dresdner Maschinenbaufabrik erleben. In der Produktion wurde in kleinen Kollektiven jeweils ein komplexerer Arbeitsschritt bewältigt. Heute würde man das "Gruppenarbeit" nennen, doch damals war die japanische Welle noch nicht über Europa eingebrochen. Von der Gruppenarbeit berichtete man uns allerdings nur am Rande, viel stolzer waren die Maschinenbauer auf eine neue japanische CNC-Maschine, die sie für sicher viel Valuta auf verschlungenen Wegen in die DDR und in ihr Werk gebracht hatten. Von ihr erwartete man sich Sprünge nach vorne in der Produktivität der Arbeit. Auf die Frage, warum die Maschine aber ungenutzt in der Halle stehe, erklärte man uns, das man Schwierigkeiten mit der Arbeitsorganisation hätte, denn die Maschine passe nicht in die "alte" Form der Arbeit in kleinen Kollektiven. Man sei aber dabei, die Arbeit in Richtung einer Fließfertigung umzustellen. Damals kam mir die Aussage nur komisch vor, heute mag ich laut aufschreien: Das kann doch nicht wahr sein! Da waren die Dresdner gerade dabei, einen Schritt weg von der tayloristischen Arbeitsorganisation zu gehen, und dann kaufen sie sich mit einer westlichen Maschine genau diese Arbeitsorganisation wieder ein. Wahrscheinlich hatten die Japaner gerade ihre Produktion auf Gruppenarbeit umgestellt und konnten die alte CNC-Maschine nicht mehr gebrauchen! [5] "Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel, und durch Naturverhältnisse." (Marx 1976, 54) [6] Das Begriffspaar restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit fasst kategorial die grundsätzlich immer vorhandene "doppelte Möglichkeit" des Handelns entweder unter Akzeptanz und struktureller Ausnutzung herrschender Instanzen seine Handlungsfähigkeit auf Kosten anderer (und damit strukturell in Selbstfeindschaft zu sich selbst) zu sichern bzw. auszubauen oder in Koalition mit anderen gemeinsam die einschränkenden Bedingungen zu überwinden und langfristig für alle und damit für sich die Handlungsmöglichkeiten auszubauen (vgl. Holzkamp 1985). [7] Eine Idealisierung dieser "persönlichen Verhältnisse" ist jedoch völlig unangebracht, denn es handelte sich um personale Zwangsverhältnisse wie Sklavenbesitz, Leibeigenschaft, patriachale Familienstrukturen etc. [8] "Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital." (Marx 1976, 167f) [9] GNU General Public License (GPL), auch "Copyleft" genannt, vgl. http://www.gnu.org/copyleft/gpl.html. [10] Die Verwertungsfreiheit bezieht sich nur auf die freien Softwareprodukte selbst. Es ist klar, das der Kapitalismus wie jede verwertbare Sache auch freie Software in die Verwertung einbezieht. Dank der speziellen Lizenz gelingt dies nur mittelbar, etwa über die Übertragung kommerzieller Software auf freie Betriebssysteme, über kommerzielle Projekte unter Benutzung freier Software, über kommerziellen Support etc. [11] Das Medium, was das "virtuelle Zusammenleben" vermittelt, ist das Internet. Viele Entwickler/innen kennen sich zwar durchaus "persönlich", aber nicht unbedingt "von Angesicht zu Angesicht". [12] Auch ich habe mich für einen Teilausstieg entscheiden, wenngleich meine freien Produkte nicht Software, sondern Theorien und Denkformen sind, bei denen ich gleichwohl auf einen möglichst hohen Gebrauchswert hoffe. |