Stefan Meretz (Oktober 1999)

Produktivkraftentwicklung und Subjektivität.
Vom eindimensionalen Menschen zur unbeschränkt entfalteten Individualität

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Version 1.02, Letzte Änderung: 27.10.1999

Originalquelle: http://www.kritische-informatik.de/pksubjl.htm

Inhalt:

1. Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnisse

1.1. Produktivkraftentwicklung als Kategorie
1.2. Vergesellschaftung über die Wertabstraktion
1.3. Personal-konkrete und entfremdete Produktivkraftentwicklung

2. Etappen der entfremdeten Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus

2.1. Die industrielle Prozeßrevolution
2.2. Fordismus: Die erste algorithmische Revolution
2.3. Toyotismus: Die zweite algorithmische Revolution

3. Objektive Anforderungen und subjektive Widerspiegelungen

3.1. Ausbeutung der letzten Ressource
3.2. Selbstentfaltung unter Verwertungsbedingungen

4. Keimformen des Neuen im Alten

4.1. Das Beispiel: Linux
4.2. Ein Modell personal-konkreter Produktivkraftentwicklung
4.3. Netzwerk-Wirtschaft
4.4. Die unbeschränkte Entfaltung der Individualität
4.5. Die Umsetzung

5. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

6. Meta-Text

6.1. Versionen-Geschichte
6.2. Literatur
6.3. Anmerkungen


Produktivkraftentwicklung und Subjektivität.
Vom eindimensionalen Menschen zur unbeschränkt entfalteten Individualität

Der globale Umbruch von 1989 hat viele Menschen, die an einen historischen gesellschaftlichen Fortschritt glaubten, schwer erschüttert. Doch wenn Glaube erschüttert wird, hat das auch seine positiven Seiten. Altes kann respektlos in Frage gestellt, Theoriegebäude zerlegt werden. Vielleicht wissen wir es dann beim nächsten Mal besser. Denn dass es ein "nächstes Mal", einen neuen gesellschaftlichen Umbruch, der diesmal den Kapitalismus beendet, geben wird, scheint mir klar: Zu offensichtlich ist die Unfähigkeit dieses Systems, das auf Unfreiheit und Ausbeutung beruht, die Probleme der Menschheit zu lösen. Der nächste Umbruch könnte jedoch auch ein "finaler" sein, aber das ist hier nicht das Thema. Das Thema hier ist die Aktualisierung "alter" Analysen: Wie ist die Lage, welche Widersprüche gibt es, welche Tendenzen kann man erahnen?

Zur Beantwortung dieser Fragen ist eine doppelte Denkbewegung notwendig. Zunächst müssen "alte" analytische Begriffe auf ihre Tauglichkeit geprüft werden. Dann werden sie genutzt zur Untersuchung unserer Situation, werden "angewendet". Die Ergebnisse wiederum liefern dann Hinweise auf die Nützlichkeit und Qualität der Kategorien, wenn sie das vorher bunt-vielfältige Bild der Erscheinungen durchdringbar, verstehbar, in ihrer Prozesshaftigkeit abbildbar machen.

Theoretischer Bezugsrahmen auf gesellschaftlicher Ebene war und ist der Marxismus, weniger die Resultate aus Marxschen frühen industriekapitalistischen Zeiten als die Methodik und die analytischen Begriffe. Als "Versuch eines inneren Ausbaus der materialistischen Dialektik in Richtung auf eine ... marxistische Individualwissenschaft" [1] kommt die Kritische Psychologie hinzu, sobald es um die Individuen in den Gesellschaften geht.

1. Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnisse

Zentrales Element im Marxismus ist die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Drei Begriffe, die der Erläuterung bedürfen. Unter Dialektik verstehe ich das Denken einer Sache als Bewegung in Form von Widersprüchen, wobei Bewegung der Sache und Denkbewegung strukturgleich sein sollen. Die Historisierung der Sache, das Aufdecken der Werdenslogik als Resultat der widerspruchsvollen Bewegung ist für die Dialektik zentral. Zur Erläuterung der anderen beiden Begriffe zitiere ich aus einem Philosophischen Wörterbuch aus der DDR: "Die Produktivkräfte bringen das Verhältnis des Menschen zu den Gegenständen und Kräften der Natur ... zum Ausdruck. (...) Die entscheidende und hauptsächliche Produktivkraft sind die Menschen..." Produktivkraft bezeichnet also kein "Ding", sondern ein Verhältnis. Und zum Stichwort Produktionsverhältnisse finden wir, daß es sich um gesellschaftliche Beziehungen handele, die die Menschen zum Zwecke der Produktion eingehen, wobei "die Eigentumsverhältnisse die grundlegenden, bestimmenden Verhältnisse" sind, die "durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte bestimmt" werden [2].

Die widerspruchsvolle Realbewegung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wurde in der politischen Praxis weitgehend auf einen Inhalt-Form-Dualismus reduziert - nicht nur in den realsozialistischen Ländern. Es bestand die Vorstellung, das die Produktivkräfte schrittweise wachsen wie ein Kind wächst und das in Folge des Wachstums die Hülle, die Jacke des Kindes zusehends zu klein wird. Und irgendwann ist das Kind rausgewachsen, dann muß eine neue Jacke her, dann ist der Sozialismus da: "...nun mit Macht zum Durchbruch dringt", wie es in der "Internationalen" heißt. Wie es im Sozialismus dann weitergeht, ist unklar: Die "neue Jacke" paßt dann anscheinend immer richtig, sie wächst dann mit dem Kinde mit - na ja, oder das Kind hört auf zu wachsen. Die Frage jedenfalls, ob denn die Produktivkräfte sich im Sozialismus qualitativ von denen im Kapitalismus unterscheiden können, sollen oder müssen, wurde erst diskutiert, als es schon zu spät war. Auch innerhalb des Kapitalismus gab es nach dieser linearen Produktivkraft-Wachstums-Vorstellung keine qualitativen Sprünge. Selbst die seit den Sechziger Jahren moderne Redewendung, Wissenschaft sei zur unmittelbaren Produktivkraft geworden, änderte nichts daran, denn die Begründung dieser Aussage war höchst nebulös. Warum soll die Wissenschaft, die sich mit dem Entstehen des Kapitalismus entfaltet hat, vorher mittelbar, dann aber unmittelbar Produktivkraft sein?

Die Folge der schematischen Vorstellung vom quasi-natürlichen Wachstum der "an sich" neutralen Produktivkräfte (vulgo: "neutralen Technik" [3]) war eine vereinseitigende Beschäftigung mit den Produktionsverhältnissen, denn genaugenommen konnte der Marxismus verschiedener Lesarten die systemsprengende Kraft des Produktivkraft-Produktionsverhältnis-Widerspruchs nicht erklären. Bei den wiederkehrend beobachtbaren Krisen im Kapitalismus geht es nämlich überhaupt nicht um eine "Nichtbeherrschung" der Produktivkräfte, sondern um Verwertungskrisen des Kapitals, um Überproduktion, Strukturkrisen etc. Trotzdem herrschte der feste Glaube daran, dass die Produktivkräfte wie geschmiert laufen, sind erst einmal die richtigen Eigentumsverhältnisse hergestellt. Die Fixierung auf die Produktionsverhältnisse, auf die Eigentumsfrage, hält bis heute an. Die einen drücken dies aus, in dem sie demonstrativ erklären, diese Frage sei nicht die entscheidende Frage, es gäbe viele Eigentumsformen etc.; die anderen, in dem sie die Eigentumsfrage zum Schlüsselkriterium für linke Theorie erheben. Beide liegen schief.

1.1. Produktivkraftentwicklung als Kategorie

Die Kritische Psychologie hat nicht nur wichtige und ähnlich wie Marx historisch überdauernde inhaltliche Ergebnisse aus ihren subjektwissenschaftlichen Forschungen hervorgebracht, sie hat auch methodische Verallgemeinerungen aus den inhaltlichen Analysen extrahiert, die noch wenig rezipiert wurden. Eine dieser Verallgemeinerungen ist der methodische Fünfschritt als Konkretisierung der dialektischen Grundgesetze des Umschlags von Quantität in Qualität und der Negation der Negation. Der Fünfschritt besteht in dem Aufweis der folgenden Entwicklungsschritte (vgl. Holzkamp 1985, S. 78ff):

  1. Entstehen der neuen Keimformen, die die spätere Entwicklung bestimmen
  2. Veränderung der Rahmenbedingungen des noch dominanten Gesamtprozesses
  3. Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen Entwicklungsdimension neben der noch dominanten Funktion des Gesamtprozesses (erster Qualitätssprung)
  4. Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)
  5. Umstrukturierung des umgreifenden Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der neuen bestimmenden Entwicklungsdimension

Holzkamp bezog diese Schrittfolge auf den phylogenetischen Prozeß, ich werde sie darüber hinaus als generelle Konkretisierung der dialektisch-materialistischen Entwicklungsvorstellung verwenden.

Wenn "Handlungsfähigkeit" die zentrale subjektwissenschaftliche Kategorie ist, dann ist es die "Produktivkraftentwicklung" auf gesellschaftstheoretischer Ebene. Produktivkraftentwicklung bezeichnet - ganz allgemein formuliert - die Art und Weise der durch Arbeit geleisteten Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens. Wegen der vorher beschriebenen historischen Vereinseitigungen im Umgang mit dieser Kategorie ist es notwendig, genauer hinzuschauen [4]. Produktivkraftentwicklung faßt - etwa im Unterschied zur vereinfachenden Rede von der Produktivkraft - die gegenwärtige Historizität der Produktivkräfte, d.h. sie hebt ab auf ihre Gewordenheit und mithin auf ihre weitere Entwicklung. Dabei ist "Produktivkraft" nicht einfach eine Kraft im physischen oder gar physikalischen Sinne, sondern faßt Quantität und Qualität menschlicher Arbeit. Sie ist "Produktivkraft der Arbeit", wie es bei Marx [5] stets heißt, sie bildet das Verhältnis von Mensch, Mitteln und Natur ab. Die beschriebene Vereinseitigung auf den Mittelaspekt ging einher mit einer Reduktion auf die quantitative Seite: Produktivkraft wurde mit Produktivität gleichgesetzt. Demgegenüber sind die qualitativen Dimensionen (wieder) zur Geltung zu bringen, um die analytische Funktion des Begriffs zu revitalisieren: Dies sind zum einen der Inhalt der Arbeit, also die Art der Produkte, der Bezug zur Natur und die verwendeten Mittel zur Herstellung und zum anderen die Form der Arbeit, also die Arbeitsorganisation.

Produktivkraftentwicklung als Begriff, mit den qualitativen Dimensionen des Inhalts und der Form der Arbeit und der quantitativen Dimension der Produktivität der Arbeit, ist wie Handlungsfähigkeit auf individueller Ebene eine formationsübergreifende Kategorie. Um die Analyse zu schärfen, ist es notwendig, die Kategorien weiter in Bezug auf die kapitalistische Gesellschaftsformation zu spezifizieren. Mit dem analytischen Begriffspaar der verallgemeinerten/restriktiven Handlungsfähigkeit [6] hat die Kritische Psychologie dies für die individualwissenschaftliche Ebene geleistet. Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene fehlt eine solche Differenzierung des Produktivkraftbegriffs - bisher hat sich, soweit ich das übersehen kann, auch niemand eine Notwendigkeit gesehen. Diese Aufgabe sei im folgenden versucht.

1.2. Vergesellschaftung über die Wertabstraktion

Das Spezifikum des Kapitalismus ist sein Vergesellschaftungsmechanismus. Der Begriff der Vergesellschaftung faßt die Art des Vermittlungszusammenhangs von Individuen, Gruppen und Gesellschaft bei der Produktion und Reproduktion ihres Lebens. Während in allen früheren Agrargesellschaften Vergesellschaftung immer natural-personal vermittelt war und Warentausch nur als Randerscheinung existierte, erfolgt die Vergesellschaftung, die gesellschaftlich vermittelte Existenzsicherung, unter kapitalistischen Bedingungen warenförmig oder genauer noch: wertförmig. Was heißt das? Kapitel 1.4 "Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis" des Marxschen "Kapital" klärt uns auf (alle folgenden Zitate, bei denen nur Seitenzahlen angegeben sind, aus Marx 1976).

Im Feudalismus waren die gesellschaftlichen Verhältnisse durch persönliche Abhängigkeiten bestimmt. Die Arbeitsprodukte gehen in ihrer konkreten, in ihrer Naturalform in die gesellschaftliche Reproduktion ein. Entsprechend charakterisiert Marx die Arbeit:

"Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form." und: "...die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen, der Arbeitsprodukte." (S. 91f)

Die Besonderheit, die Konkretheit, die Nützlichkeit der Dinge bestimmt die Arbeit, und die bestimmt die gesellschaftlichen Verhältnisse als "persönliche Verhältnisse" [7].

Anders im Kapitalismus, hier sind persönliche Verhältnisse "verkleidet" in Verhältnisse von Sachen. Wie ist das zu verstehen? Im Kapitalismus wird nicht auf direkte Anforderung des gesellschaftlichen Bedarfs produziert, sondern zunächst in Form "voneinander unabhängig betriebener Privatarbeiten" (S. 87). Diese Produkte werden dann im Tausch einander als Werte gleichgesetzt, was bedeutet, sie als geronnene Arbeitszeiten gleichzusetzen. Die Produkte werden entsinnlicht, ihre jeweilige Besonderheit, Konkretheit und Nützlichkeit interessiert nicht mehr, es interessiert nurmehr der Wertinhalt. Damit wird die Arbeit nicht mehr durch die Besonderheit, Konkretheit und Nützlichkeit bestimmt, sondern nurmehr durch die Tatsache, dass sie Wert vergegenständlicht. Der Wertvergleich, also Vergleich von Arbeit (-szeit) auf dem Markt ist ein sachliches, von der Konkretheit der Dinge abstrahierendes Verhältnis. In dieses "Verhältnis der Sachen" sind die persönlichen Verhältnisse "verkleidet", sie bestimmen alle gesellschaftlichen Verhältnisse. Marx faßt das in einem Satz so zusammen:

"Die Gleichheit der menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten betätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte." (S. 86).

Die Herstellung von gesellschaftlichen Beziehungen als Beziehungen von Sachen erhält seine subjektlose Dynamik durch die Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz. Wert "ist" nur Wert, wenn er Kapital wird, wenn der Wert sich auf dem Markt auch wirklich realisiert, wenn er auf Wert in Geldform trifft und in Kapital umgewandelt wird, wenn er die Konkurrenz um das beschränkte Geld auf dem Markt gewinnt. Die Verwertung von Wert ist dauerhaft nur sichergestellt, wenn Wert zu Kapital wird, um die nächste Runde des Warenzirkulation anzutreiben. Das Kapital ist Ausgangs- und Endpunkt einer sich stetig steigernden Spirale der Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz:

"Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist ... Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos." (S. 167)

Die Wertabstraktion, die Verdinglichung menschlicher Beziehungen, hat verschiedene Erscheinungen: als Ware, als Geld, als Lohn. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind damit der Vermittlung durch die Wertabstraktion unterworfen, so auch die Arbeit und die Produktivkraftentwicklung. Für den Begriff der Arbeit gibt es die kategoriale Differenzierung in konkrete, gebrauchswertschaffende und in abstrakte, entfremdete, (tausch-) wertschaffende Arbeit. Für den Begriff der Produktivkraftentwicklung fehlt eine kategoriale Differenzierung - auch eine Ursache für die theoretische überhistorische Naturalisierung des Produktivkraftbegriffs. Die Historisierung der Produktionsverhältnisse in eine Abfolge von Klassengesellschaften hebt das Manko nicht auf, mehr noch, die historisch-logische Dynamik der "Formseite" wird überhaupt nur verständlich, wenn die "Inhaltsseite" dem Isomorphiekriterium genügen kann. Das Isomorphiekriterium fordert eine Strukturgleichheit von Realentwicklung und begrifflicher Widerspiegelung. Wenn sich also real die Produktivkraftentwicklung in qualitativ unterschiedlichen Etappen vollzogen hat und vollzieht, dann muß dies auch begrifflich abbildbar sein.

1.3. Personal-konkrete und entfremdete Produktivkraftentwicklung

Mit der Vermittlung der gesellschaftlichen Verhältnisse über die Wertabstraktion hat der Kapitalismus eine historisch neue Form, in der die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens verläuft, geschaffen. Zunächst ist also eine nicht-wertförmige von einer wertförmigen Reproduktion abzugrenzen. Begrifflich schlage ich hier die Unterscheidung von personal-konkreter und entfremdeter Produktivkraftentwicklung vor. Gemäß des methodischen Fünfschritts läßt sich der doppelte Umschlag von nicht-wertförmiger zu wertförmiger Reproduktion und von personal-konkreter und entfremdeter Produktivkraftentwicklung im Einzelnen nachweisen.

In den vorkapitalistischen Agrargesellschaften war die personal-konkrete Produktivkraftentwicklung dominant. Es ging um die Herstellung von Nahrungsmitteln mit Hilfe von einfachen Werkzeugen und unter Nutzung menschlicher und tierischer Kraftanstrengung. Die Arbeitsorganisation war wie der Produktenaustausch personal bestimmt. Die Sklaven waren persönlicher Besitz des Sklavenhalters, der sich die Produkte durch unmittelbaren Zwang aneignete. Im Feudalismus war der Spielraum der mehrheitlich leibeigenen Bauern größer. Trotz Abgabenzwang und Frondiensten bestand ein Eigeninteresse an der Entwicklung der Produktivkräfte, so daß die Produktivität anstieg. Aufgrund des höheren Mehrprodukts konnten sich Handwerk und Gewerbe rasch entwickeln. Die Agrargesellschaften waren dezentrale Naturalwirtschaften, deren Reproduktion im Rahmen definierter räumlicher, personaler und arbeitsorganisatorischer Grenzen (unmittelbare physische Gewalt, Frondienste, Zünfte) vermittelt wurden. Die Produktivkraftentwicklung war eine konkrete sinnliche Tat.

Der Kapitalismus entsinnlichte alle personal-vermittelten Zusammenhänge, und ersetzte sie durch die Abstraktion des Wertvergleichs auf dem Markt. Die Menschen wurden aus den persönlichen Abhängigkeiten befreit, doppelt befreit, wie es so schön heißt: Sie waren "frei" von Produktionsmitteln und "frei" ihre Arbeitskraft in die abstrakte Wertproduktion zu geben. Arbeit und Produktivkraftentwicklung waren nun nurmehr sekundär auf konkrete Produkte, Arbeitsmittel und Arbeitsformen gerichtet, sie wurden primär Mittel der automatischen Wertvermehrung hinter dem Rücken der Menschen. Über die Wertabstraktion "Lohn" waren die Arbeiter/innen in die automatische Geldvermehrungsmaschine in doppelter Weise einbezogen: Als Arbeitskräfte und als Konsumenten. Marx nannte die abstrakte Arbeit, die nur Werte herstellt und die Arbeiter/innen sinnlich und physisch von "ihrem" produzierten Produkt trennt, "entfremdete Arbeit". Die entfremdete Arbeit bestimmte die Produktivkraftentwicklung, die seitdem alle Mensch-Natur-Mittelbeziehungen entkonkretisiert, entsinnlicht und sie dem Arbeiter als Sachzwang erscheinen läßt, den er nur zu exekutieren hat. Die Weberaufstände als erste Revolte gegen die entfremdete Produktivkraftentwicklung wollten den Sachzwang schlicht stoppen, in dem sie sich gegen die Mittel wandten; die marxistische Arbeiterbewegung wollte dem Sachzwang begegnen, in dem sie sich gegen die Sachverwalter des Zwangs, das Kapital, wendeten mit der Vorstellung die Resultate des Sachzwangs, die Arbeitsprodukte, selbst gerechter zu verteilen. Doch beide nahmen den Sachzwang als quasi-ontologische Realität hin, anstatt die Wertselbstverwertung als Antriebsmechanismus zu erkennen und aufzuheben. Doch dazu später mehr.

2. Etappen der entfremdeten Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus

Die durch die Wertverwertung bestimmte entfremdete Produktivkraftentwicklung durchlief (und durchläuft) drei voneinander abgrenzbare Stufen: Manufakturperiode, Industrielle Revolution und Fordismus/Toyotismus. Der Übergang zur kapitalistischen wertbestimmten Vergesellschaftung und die drei immanenten Etappen seien im folgenden kurz dargestellt.

Ausgehend von gesicherten bürgerlichen Zonen inmitten des Feudalismus, den Städten, entfalteten Handwerker und vor allem Kaufleute ihre ökonomischen Aktivitäten (Stufe 3: Funktionswechsel). Der Einsatz geraubten und erhandelten Kapitals der Kaufleute sowie die Entwicklung von kombinierten Einzelarbeiten der Handwerker in der Manufaktur hin zum aus einseitigen Teilarbeitern bestehenden "kombinierten Gesamtarbeiter" (S. 359) ermöglichten eine Übernahme der ökonomischen Basis durch die neue bürgerliche Klasse. Mit der Manufakturperiode, auch als Frühkapitalismus bezeichnet, begann die Umstrukturierung des alten feudalen zum neuen bürgerlichen ökonomischen System, von der alten personal-konkreten zur entfremdet wertvermittelten gesellschaftlichen Reproduktion. Dieser Dominanzumschlag (Stufe 4 des Fünfschritts) gehört streng genommen noch zur alten Systemperiode, dem Feudalismus. Die Teilung der Arbeit trennt den ursprünglichen Handwerker von seinem Produkt: "Erst das gemeinsame Produkt der Teilarbeiter verwandelt sich in Ware." (S. 376) Der Prozess der über Wertäquivalenz ausgetauschten Waren verselbstständigte sich gegen den Handwerker, der Kapitalist exekutiert den verselbstständigten Prozess.

2.1. Die industrielle Prozeßrevolution

Die industrielle Revolution sorgte schließlich endgültig dafür, daß sich der umgreifende gesamtgesellschaftliche Prozess nach den Maßgaben der kapitalistischen Wertverwertung ausgerichtet wurde (letzte Stufe des Fünfschritts). Die drei Bestandteile des industriellen Prozesses wurden getrennt, verwissenschaftlicht, verallgemeinert und auf die maximale Verwertung ausgerichtet (vgl. Meretz 1999a):

  • Energiemaschine (bei Marx: Bewegungsmaschine)
  • Prozeßmaschine (bei Marx: Werkzeugmaschine oder Arbeitsmaschine)
  • Algorithmusmaschine (bei Marx: Transmissionsmechanismus)

Marx wies nach, daß die Prozeßmaschine der Ausgangspunkt der industriellen Revolution war - und nicht wie heute noch fälschlich angenommen wird, die Energiemaschine ("Dampfmaschine"). Die Prozeßmaschine verallgemeinerte und entsubjektivierte die Handwerkertätigkeit und vergegenständlichte sie in einem technischen Prozeß. Sie entfremdete den Handwerker von Tätigkeit und Produkt, die Produktivkraftentwicklung hatte damit selbst entfremdeten Charakter.

Die folgenden Umwälzungen liefen alle auf dem Niveau kapitalistischer Vergesellschaftung ab, stellen jedoch eigene qualitative Stufen der Produktivkraftentwicklung dar. Die Dimension der produktiven Basis, die die Grundlage für diese immanenten Umbrüche bildete, war die Algorithmusmaschine. Dieser Aspekt wird bisher völlig unzureichend reflektiert, da der Marxsche "Transmissionsmechanismus" in der Regel nur als bloße Energieübertragung gelesen wird. Auch für die folgenden Umwälzungen der Produktivkraftentwicklung läßt sich der methodische Fünfschritt anwenden.

2.2. Fordismus: Die erste algorithmische Revolution

Keimformen (Fünfschritt Stufe 1) der Algorithmisierung der Produktion liegen "in" den ersten komplizierten oder kombinierten Werkzeugmaschinen. Die Übertragung der Werkzeugführung des Handwerkers auf eine Maschine vergegenständlichte sein algorithmisches Prozeßwissen. Die ersten Absatzkrisen auf beschränktem Markt (Fünfschritt Stufe 2) konnte - neben anderen Möglichkeiten, die Marx beschreibt - vor allem durch Steigerung der Produktivität begegnet werden. Die Fortentwicklung der Produktivkraft der Arbeit wurde nun vollends durch die maßlose Tendenz des Werts, sich auf stetig erweiterter Stufenleiter zu reproduzieren, angetrieben. Mit der Trennung des industriellen Prozesses in seine drei Bestandteile, wurde jeder Teilaspekt unabhängig von den jeweils anderen der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich. Die Entstehung der modernen Naturwissenschaften waren Resultat dieser Verwissenschaftlichung. Aus der bloßen Vergegenständlichung handwerklicher Einzelprozesse wird eine wissenschaftliche Bearbeitung des gesamten Produktionsprozesses (Funktionswechsel, Stufe 3), die die historische handwerkliche Arbeitsteilung vollends aufhebt:

"Dies subjektive Prinzip der Teilung fällt weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier objektiv, an und für sich betrachtet, in seine konstituierenden Phasen analysiert, und das Problem, jeden Teilprozeß auszuführen und die verschiednen Teilprozesse zu verbinden, durch technische Anwendung der Mechanik, Chemie usw. gelöst..." (S. 401).

Der Fordismus führte die Algorithmisierung der Produktion konsequent durch. Augenfälligstes Resultat dieser Algorithmisierung war das Fließband, das bald alle Wirtschaftsbereiche als "Leitbild" bestimmte (Dominanzwechsel, Stufe 4). Die Entfernung jeglicher Reste von Subjektivität der arbeitenden Menschen aus der Produktion war Programm ("Taylorismus"). Der Mensch wurde zum vollständigen Anhängsel der Maschine, in der der von Ingenieuren vorgedachte Algorithmus des Produktionsprozesses vergegenständlicht war. Diese Produktionsweise basierte auf der massenhaften Herstellung uniformer Güter. Dem entsprachen auf der Seite der Administration die Betriebshierarchien und das Lohnsystem und gesamtgesellschaftlich der Sozialstaat (letzte Stufe des Fünfschritts).

2.3. Toyotismus: Die zweite algorithmische Revolution

Wenn mit der fordistischen Durchstrukturierung der Gesellschaft die algorithmische Revolution vollendet wurde, wie sind dann die inzwischen gar nicht mehr so neuen Tendenzen der flexibilisierten Produktion und der "Informationsgesellschaft" zu bewerten? Zunächst einmal ist festzuhalten, daß nach einem qualitativen Entwicklungsschritt, also nachdem der umgreifende Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der neuen bestimmenden Entwicklungsdimension (hier: der Algorithmisierung der Produktion als "Betriebsmittel" der Maschinerie zur Selbstverwertung von Wert) hin umstrukturiert wurde, die Entwicklung nicht stehen bleibt. Die letzte Stufe als innere Ausfaltung des Systems, als Vordringen der gegebenen Entwicklungstypik in die letzten Winkel der Gesellschaft, ist erst "abgeschlossen", wenn sich die inneren Entfaltungsmöglichkeiten des Systems erschöpft haben, wenn Änderungen der Rahmenbedingungen nicht mehr durch Integration und innere Entfaltung aufgefangen werden können, wenn die Systemressourcen aufgebraucht sind (vgl. Schlemm 1996). Gleichzeitig entstehen Keimformen neuer Möglichkeiten, und die Veränderung der Rahmenbedingungen, die sich die automatischen Wertverwertungsmaschine selbst erzeugt, werden zusehends zur Bedrohung für das System selbst. Das alte System erzeugt sich selbst die Widersprüche, die es auf vorhandenem Entwicklungsniveau nicht mehr integrieren kann. Entfaltung in alter Systemlogik (Stufe 5), Herausbildung neuer Keimformen (Stufe 1) und Widerspruchszuspitzung durch selbst erzeugte systemgefährdende Aussenbedingungen (Stufe 2) verschränken sich also. In einer solchen Situation befinden wir uns gegenwärtig, und von hier aus kann man auch die Integrationsversuche der Widersprüche in alter Systemlogik analysieren.

Mit der "doppelten algorithmischen Revolution" im Kapitalismus habe ich mich an anderer Stelle (Meretz 1999a) ausführlich beschäftigt. Zusammenfassend sei hier nur soviel dargestellt: Der Toyotismus - diese gängige Bezeichnung übernehme ich - versucht die Flexibilität als Merkmal in der Produktion algorithmisch zu vergegenständlichen, er algorithmisiert die Algorithmisierung selbst. Diese Algorithmisierung in neuer Größenordnung ist eng verbunden mit dem Übergang von der Hardwareorientierung (die Maschine als vergegenständlichter analoger Algorithmus) zur Softwareorientierung und damit Digitalisierung, also mit der Trennung von Prozeßmaschine und Algorithmusmaschine. Auslöser dieses Entwicklungsschubes sind die veränderten Marktanforderungen. Die Wertverwertung können nurmehr diejenigen sicherstellen, die in kurzer Zeit auf geänderte Marktanforderungen reagieren können. Nicht die Fähigkeit zur Produktion eines nachgefragten Produkts überhaupt entscheidet (wie im Fordismus), sondern die Fähigkeit zur Realisation dieser Anforderung innerhalb kürzester Zeit. Wenn ich auch hier von "Revolution" spreche, so beziehe ich dies kapitalismusimmanent auf die algorithmische Entwicklungsdimension: Fordismus und Toyotismus schufen eine doppelten algorithmischen Umbruch und sind deshalb als zwei unterschiedliche Stufen entfremdeter Produktivkraftentwicklung zu behandeln. Auf den übergreifenden Modus wertbestimmter Vergesellschaftung bezogen bildet der Toyotismus die letzte innerkapitalistische Entfaltungsvariante entfremdeter Produktivkraftentwicklung. Er hat gleichzeitig die Bedingungen geschaffen, dass sich an den "Rändern" wertvermittelter Produktion neue Vergesellschaftungsformen herausbilden können (Stufe 1).

3. Objektive Anforderungen und subjektive Widerspiegelungen

Der Fordismus mit seiner uniformen Massenproduktion befriedigte gleichartige Massenbedürfnisse, die ihrerseits die Massenproduktion antrieben. Marcuse (1967) sprach von "ökonomisch-technischer Gleichschaltung", die den "eindimensionalen Menschen" in der "eindimensionalen Gesellschaft" hervorbringt. Als sich die Zyklen von Massenproduktion und Massenkonsum erschöpft hatten, und ab Mitte der Siebziger Jahre zyklisch Verwertungskrisen einsetzten, begann die innere gesellschaftliche Differenzierung. Nur wer die Produktion flexibel auf rasch ändernde Bedürfnisse einstellen konnte, bestand in den immer kürzeren Verwertungszyklen. Die flexible Produktion vergrößerte den individuellen Möglichkeitsraum und trieb so die Individualisierung voran. Gleichzeitig werden fordistische Errungenschaften wie die sozialstaatlichen Absicherungen abgebaut und immer mehr Menschen aus den Verwertungszyklen ausgegrenzt. Nicht nur ökologisch gesehen zehrt das Verwertungssystem seine eigenen Grundlagen langsam auf. Die gegebene Form der entfremdeten Produktivkraftentwicklung ist an ihr Ende gelangt, ein neuer - doppelter - Qualitätssprung steht an. Im folgenden versuche ich die Keimformen des neuen Vergesellschaftungstyps näher zu bestimmen.

3.1. Ausbeutung der letzten Ressource

Nach agrarischer und industriell-technischer Produktivkraftentwicklung bleibt eine Dimension im Verhältnis von Mensch, Natur und Mitteln, die noch nicht Hauptgegenstand der Entfaltung war, und das ist der Mensch selbst. Doch der Mensch ist definitionsgemäß bereits "Hauptproduktivkraft", soll er sich nun "selbst entfalten" wie er die Nutzung von Natur und Technik entfaltet hat? Ja, genau das! Das Kapital als Exekutor der Wertverwertungsmaschine ahnt, dass der Mensch selbst die letzte Ressource ist, die noch qualitativ unentfaltete Potenzen der Produktivkraftentwicklung birgt. In seiner maßlosen Tendenz, alles dem Verwertungsmechanismus einzuverleiben, versucht das Kapital auch diese letzte Ressource auszuschöpfen. Die Methode ist einfach: Die alte unmittelbare Befehlsgewalt über die Arbeitenden, die dem Kapitalisten qua Verfügung über die Produktionsmittel zukam, wird ersetzt durch den unmittelbaren Marktdruck, der direkt auf die Produktionsgruppen und Individuen weitergeleitet wird. Sollen doch die Individuen selbst die Verwertung von Wert exekutieren und ihre Kreativität dafür mobilisieren - bei Gefahr des Untergangs und mit der Chance der Entfaltung. Wilfried Glißmann, Betriebsrat bei IBM in Düsseldorf, beschreibt den Mechanismus so:

"Die neue Dynamik im Unternehmen ist sehr schwer zu verstehen. Es geht einerseits um ‘sich-selbst-organisierende Prozesse’, die aber andererseits durch die neue Kunst einer indirekten Steuerung vom Top-Management gelenkt werden können, obwohl sich diese Prozesse doch von selbst organisieren. Der eigentliche Kern des Neuen ist darin zu sehen, daß ich als Beschäftigter nicht nur wie bisher für den Gebrauchswert-Aspekt, sondern auch für den Verwertungs-Aspekt meiner Arbeit zuständig bin. Der sich-selbst-organisierende Prozeß ist nicht anderes als das Prozessieren dieser beiden Momente von Arbeit in meinem praktischen Tun. Das bedeutet aber, daß ich als Person in meiner täglichen Arbeit mit beiden Aspekten von Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit unmittelbar konfrontiert bin. Einerseits mit den Gesetzmäßigkeiten im technischen Sinne (hinsichtlich der Schaffung von Gebrauchswerten) und andererseits mit den Gesetzmäßigkeiten der Verwertung. Ich bin als Person immer wieder vor Entscheidungen gestellt. Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung." (Glißmann, 1999, S. 152, Hervorhebungen im Original; vgl. dazu auch Peters, 1999)

Nun ist die Aussage, vor dem toyotistischen Umbruch nichts mit der Verwertung zu tun gehabt zu haben, sicher eine Mystifikation der realen Verhältnisse. Richtig ist aber, daß nach dem Umbruch die bisher nur mittelbare Marktkonfrontation einer unmittelbaren gewichen ist. So wie sich die Wertverwertung gesamtgesellschaftlich "hinter dem Rücken" der Individuen selbst organisiert, ausgeführt durch das "personifizierte Kapital" [8], die Kapitalisten (Manager etc.), so werden nun die Lohnabhängigen selbst in diesen Mechanismus eingebunden. Resultate dieser unmittelbaren Konfrontation mit dem Verwertungsdruck sind annähernd die gleichen wie zu Zeiten der alten Kommandoorganisation über mehrere Hierarchieebenen: Ausgrenzung vorgeblich Leistungsschwacher, Kranker, sozial Unangepasster, Konkurrenz untereinander, Mobbing, Diskrimination von Frauen etc. - mit einem wesentlichen Unterschied: Wurde vorher dieser Druck qua Kapitalverfügungsgewalt über die Kommandostrukturen im Unternehmen auf die Beschäftigten aufgebaut, so entwickeln sich die neuen Ausgrenzungsformen nahezu "von selbst", d.h. die Beschäftigen kämpfen "jeder gegen jeden". In der alten hierarchischen Kommandostruktur war damit der "Gegner" nicht nur theoretisch benennbar, sondern auch unmittelbar erfahrbar. Gegen das Kapital und seine Aufseher konnten Gewerkschaften effektiv Gegenmacht durch Solidarität und Zusammenschluß organisieren, denn die Interessen der abhängig Beschäftigten waren objektiv wie subjektiv relativ homogen. In der neuen Situation, in der die Wertverwertung unmittelbar und jeden Tag an die Bürotür klopft, sind Solidarität und Zusammenschluß unterminiert - gegen wen soll sich der Zusammenschluß richten? Gewerkschaften und Marxismen ist der Kapitalist abhanden gekommen! War die alte personifizierende Denkweise (und entsprechende Agitationsform) schon immer unangemessen, schlägt sie heute erbarmungslos zurück. Nicht mehr ‘der Kapitalist’ (oder ‘das Kapital’ oder ‘der Vorgesetzte’) ist der Gegner, sondern ‘der Kollege’ oder ‘die Kollegin’ nebenan. Die IBM-Betriebsräte nennen das "peer-to-peer-pressure-Mechanismus" (Glißmann 1999, 150).

3.2. Selbstentfaltung unter Verwertungsbedingungen

Warum funktioniert die neue sich-selbst-organisierende Arbeitsform überhaupt? Neben den Effekten der Entsolidarisierung gibt es gleichzeitig auch einen größeren Handlungsspielraum, ein Mehr an Entfaltungsmöglichkeiten und Verantwortung als zu Kommandozeiten. In der unmittelbaren Arbeitstätigkeit sind die Handlungsrahmen weiter gesteckt als vorher: "Es gilt das Motto: ‘Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein’" (Glißmann 1999, S. 151). Innerhalb dieses vergrößerten Handlungsrahmens kann ich in größerem Maße als früher meine individuellen Potenzen entfalten, weil ich selbst an meiner eigenen Entfaltung interessiert bin, weil es Spaß macht und meiner Persönlichkeit entspricht. Die Bedingungen, daß ich mich selbst als Hauptproduktivkraft entfalte, sind besser geworden, gleichwohl geschieht dieses Mehr an Entfaltung unter entfremdeten Bedingungen. Die Entfaltung ist nur möglich, solange ihre Ergebnisse verwertbar sind, solange ich profitabel bin. In meiner Person spiegelt sich mithin der antagonistische Widerspruch von Verwertung und Selbstentfaltung, von entfremdeter Produktivkraftentwicklung und Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch an-und-für-sich.

Unter den Bedingungen der Selbstverwertung von Wert ist meine Selbstentfaltung immer beschränkt. Der Widerspruch ist auch nicht über die kollektive Verfügung über die Produktionsmittel auflösbar. Auch Staatseigentum, Genossenschaften oder andere vorgeblich nicht-private Eigentumsformen ändern nichts da dieser Tatsache: "In Wahrheit ... ist jede beliebige Eigentumsform, die auf der ‘Verwertung des Werts’ beruht und deren Produktion daher gesellschaftlich nur über Marktbeziehungen vermittelt sein kann, per definitionem immer schon Privateigentum." (Kurz, 1997) Die übergreifende Form entfremdeter Produktivkraftentwicklung strukturiert unsere Handlungsmöglichkeiten - gesellschaftlich und individuell.

Will ich mir nun über meine individuellen Handlungsmöglichkeiten klar werden, so muß ich mir über die gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen, die den Möglichkeitsraum abstecken, Klarheit verschaffen. Nur das Verständnis des selbstorganisierenden Wirkmechanismus der Wertselbstverwertung bewahrt mich davor, die betrieblichen Probleme (wie andere gesellschaftliche Fragen) zu personalisieren und auf die Frage der Verfügungsgewalt zu reduzieren. Wenn in der Kritischen Psychologie Handlungsfähigkeit als "gesamtgesellschaftlich vermittelte Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen" (Holzkamp 1985, 239) gefaßt wird, so muß diese allgemeine Fassung für die Gesellschaftsformation des Kapitalismus hinsichtlich der Vermittlungsform spezifiziert werden. Die Tatsache der gesellschaftlichen Vermitteltheit des eigenen Lebens ist menschliches Spezifikum (in Abhebung vom Tierreich), die Vermitteltheit selbst ist jedoch nicht ontologisches Faktum, sondern selbst formbestimmt. Zur genauen Bestimmung von Lage und Position (vgl. Holzkamp 1985, 195ff) als "Ort" der gesellschaftlichen Vermittlung muß also die Analyse des umgreifenden Vermittlungsmechanismus’ hinzutreten. Für die kapitalistische Formation wird dieser Mechanismus durch die Vermittlung über das Abstraktum "Wert" konstituiert, seine Wirkung sind lage- und positionsspezifisch unterschiedlich. Als kurzes Beispiel mag die oben zitierte Beschreibung des IBM-Betriebsrates dienen. Glißmann schlägt als Ausweg vor, den "peer-to-peer-pressure-Mechanismus" offen zu legen und kollektiv zu versprachlichen - eine unbedingt sinnvoller Vorschlag. Dann soll jedoch dem personalen Druck personaler Gegendruck entgegengesetzt werden:

"Wann immer der Mechanismus wahrgenommen wird, gilt es, ‘die rote Karte zu zeigen’. Vielleicht unter dem Motto ‘Zeigen Sie die rote Karte, bevor Sie selber zum Opfer des Mechanismus werden!’ Denn der/die Betroffene hat in der Regel keine Chance, den Mechanismus zu unterbrechen. Es kommt darauf an, daß andere einschreiten. Entscheidend ist, daß ich einschreite, wenn ich an mir selbst oder anderen diesen Mechanismus bemerke! Es kommt darauf an, im Betrieb ein Klima zu erreichen, das diesen Mechanismus nicht duldet."(Glißmann 1999, 170, Hervorhebungen im Original)

Ich kenne die Erfahrungen bei IBM mit der "Rote-Karte-Idee" nicht, aber ich kann mir gut vorstellen, daß die rote Karte bald selbst zum Instrument im innerbetrieblichen Konkurrenzkampfes wird. Wer will schon gerne eine rote Karte bekommen, sollen doch die anderen die Schweine sein! Wie jede nur auf Änderung von Werten, Einstellungen, Klima etc. abzielenden Maßnahmen, bleiben die strukturellen Mechanismen, gegen die ja gerade angegangen werden soll, unangetastet. Das als personal wahrgenommene Problem verbleibt im Raum des Persönlichen. Aber vielleicht verschafft die "Rote-Karte-Idee" zunächst ein wenig Freiraum, in dem dann längerfristige Handlungsmöglichkeiten erarbeitet werden können.

4. Keimformen des Neuen im Alten

Wo aber sind die Keimformen, die das Neue im Alten andeuten? Zunächst einmal muß betont werden, das alle abstrahierenden Analysen, die die Gewordenheit eines Gegenstandes sprachlich abbilden, ungleich einfacher zu bewerkstelligen sind, als prognostisch Aussagen für zu Werdendes zu treffen. Beides hängt aber dennoch eng zusammen. Das, was ich in meiner Rekonstruktion historischer Entwicklungslogiken aufzeigen kann, ist auch die Grundlage meiner verlängernden Denkbewegung dieser Prozesse in die Zukunft und meiner Sensitivität für das Entdecken eben solcher Keimformen. Wenn ich solche Keimformen benenne, so sind dies durchweg qualitative Aussagen, das heißt Aussagen zur Nähe oder Ferne der Entfaltung (und Umwandlung) solcher Keimformen sind damit nicht verbunden. So bedeutet die Aussage, der Kapitalismus habe seine Ressourcen für die weitere Entfaltung aufgebraucht, nicht, dass er morgen zusammenbricht.

Grundsätzlich sehe ich zwei Möglichkeiten für das Entstehen von Keimformen: innerhalb des Wert-Verwertungsmechanismus und außerhalb. Die erste Möglichkeit habe ich ansatzweise im vorher bereits erwähnten "Algorithmustext" (Meretz 1999a) versucht zu explizieren, wobei es mir nicht gelungen ist, zu begründen, wie aus einer Keimform innerhalb des Verwertungsmechanismus eine Bewegung entstehen kann, die genau diesen aufhebt. Beispiele für solche Keimformen konnte (und kann) ich nicht benennen. In einem weiteren Text (Meretz 1999b) habe ich mit dem Entwicklungsmodell des freien Computerbetriebssystems Linux ein Beispiel für die zweite Variante, die Entwicklung von Keimformen außerhalb des Verwertungsmechanismus ausführlich vorgestellt. Dieses Beispiel sei hier noch einmal kurz vorgestellt, verbunden mit dem Versuch, die in ihm enthaltenen Potenzen eines qualitativ neuen Modus der Produktivkraftentwicklung zu extrahieren und zu verallgemeinern.

4.1. Das Beispiel: Linux

Linux ist ein freies, extrem leistungsfähiges Computerbetriebssystem, das komplett ohne Verwertungsinteresse in weltweiter Kooperation einiger tausend Menschen "aus eigenem Antrieb" entwickelt wurde (und wird). Eine spezielle Lizenz [9] garantiert die freie, öffentliche Verfügbarkeit und schließt eine Privatisierung und damit Integration in den Verwertungszyklus aus. Damit wurde ein Sonderraum geschaffen, in dem sich Menschen zusammenfanden, die aus Spaß an der eigenen Entfaltung Software schufen, die jede/r nutzen kann. Software gilt als besonders verdichtete Form gesellschaftlichen Wissens, und es schien ausgemacht, dass ihre Herstellung strikter hierarchischer Organisationsformen bedarf, wie sie in kommerziellen Softwarefirmen existieren. Die Praxis bewies das Gegenteil. In den verwertungsfreien Sonderräumen schufen sich die Entwickler/innen völlig neue Organisationsformen, die auf Vertrauen und anerkannter Leistung basieren. Das Prinzip ist denkbar logisch und einfach: Was funktioniert, das funktioniert. Jede/r kann ein neues Projekt gründen und um Mitstreiter/innen werben. Erkennen die Mitstreiter/innen den/die Projektkoordinator/in (Maintainer/in) an, so werden sie ihn/sie unterstützen und Beiträge zum Projekterfolg leisten - und wenn nicht, dann eben nicht. Der/die Maintainer/in wiederum hat ein unmittelbares Interesse, die Projektmitglieder ernst zu nehmen, ihre Beiträge zu würdigen und als gute/r Moderator/in zu fungieren. Es gibt keinen abstrakten übergeordneten Mechanismus, der die Ziele der Projekte bestimmt. Die Ziele setzen sich die Projekte selbst, sie richten sich nach den Wünschen der Mitglieder, nach den Bedürfnissen nach Selbstentfaltung, Anerkennung und Spaß: "We just had a good time". Diese personalen, konkreten Vermittlungsformen sind die Voraussetzung für den Erfolg freier Software, sie stellen die abstrakt-wertvermittelten Formen geradezu auf den Kopf - oder vom Kopf auf die Füße, wenn man in Rechnung stellt, daß man sich schlicht den Umweg über die Wertabstraktion "spart". Die Resultate dieser Keimformen neuer Produktivkraftentwicklung "am Rande der Gesellschaft" sind bemerkenswert: anerkannt überlegene Produktqualität und schier unendliche gegenseitige Hilfsbereitschaft in der freien Software-Community. Noch vor zwei Jahren wäre es undenkbar gewesen, daß ein verwertungsfreies Produkt [10], geschaffen von freien Entwicker/innen, nur über das Internet miteinander verbunden, zur ernsten Bedrohung des weltgrößten Softwarekonzerns (Microsoft) werden sollte.

4.2. Ein Modell personal-konkreter Produktivkraftentwicklung

Die freie Softwareentwicklung ist eine Keimform personal-konkreter Produktivkraftentwicklung im Meer der dominanten wertvermittelten gesellschaftlichen Reproduktion. Auch die agrarischen Gesellschaften basierten auf personal-konkreter Produktivkraftentwicklung - ist das dann nicht ein Rückschritt? Hat die Vergesellschaftung nicht einen Grad erreicht, die personal-konkret nicht mehr steuerbar ist? Diese Fragen sind naheliegend, oder genauer: sie sind nahe gelegt. Sie entstammen gesellschaftlichen Gedankenformen, die als Alternative zur abstrakten selbstorganisierenden Wertvermittlung bestenfalls die gesamtgesellschaftliche Totalplanung zuläßt (die bekanntlich gescheitert ist). Dabei liegt als Alternative zur abstrakten subjektlosen selbstorganisierenden Vermittlung der gesellschaftlichen Reproduktion durch den Wert die konkrete selbstorganisierte Vermittlung durch die handelnden Menschen selbst auf der Hand. Nichts anderes praktizieren die Entwickler/innen freier Software. Zwei Erkenntnisschritte sind also im Wesentlichen nachzuvollziehen: Erstens liegt der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz ein sich-selbst-organisierender Mechanismus zugrunde, in dem der Wert die zentrale Vermittlungsinstanz darstellt. Zweitens ist nicht die Tatsache, daß "wir" nicht alles vollständig "unter Kontrolle" haben, ist also nicht die schwere "Greifbarkeit" der selbstorganisierenden Bewegungsform das Problem, sondern es ist die zentrale abstraktifizierende Instanz des Werts. Diese Instanz ist entbehrlich geworden und kann durch einen anderen, personal-konkreten Vergesellschaftungsmodus ersetzt werden - alle Potenzen dafür sind vorhanden.

4.3. Netzwerk-Wirtschaft

Die kommunikativen Möglichkeiten durch das Internet bieten die Basis einer neuen Organisationsform dezentral vernetzter Wirtschaft. Auch hier ahnt das Kapital die Möglichkeiten (vgl. Kelly 1998). Die Netzwerk-Wirtschaft basiert auf kleinen, dezentralen Produktionseinheiten - die fordistischen Monsterbetriebe haben ausgedient. Auch wo es um die Herstellung komplexerer Produkte geht, wird die Arbeitsorganisation eher durch kommunikativ vernetzte autonome Produktionsfraktale (Warnecke 1996) bestimmt sein. Über die kommunikative Vernetzung werden die produktiven (und reproduktiven) Einheiten in der Lage sein, sich selbst zu planen. Ein "Bestellung" eines Produkts oder einer Leistung ist zukünftig nicht mehr die Aufforderung zu einem wertbasierten Tauschakt, sondern Bekanntgabe eines persönlichen Bedarfs. Die Bedarfe sind die Parameter der dezentralen Selbstplanung der Fraktale, die sie entsprechend der verfügbaren Ressourcen in Produktion oder Leistung umsetzen. Die verfügbaren Ressourcen sind selbst wieder nur die Bedarfe der Produktions- oder Leistungsfraktale für andere Einheiten, so daß sich die Anforderungen wellenartig durch die ganze Netzwerk-Wirtschaft bewegen. Dieses Szenario ist global als nachhaltige Wirtschaft denkbar, Berechnungen haben gezeigt, daß die Ressourcen dafür heute schon vorhanden sind. Das größte Problem sind die Hinterlassenschaften wertvermittelter Wirtschaft, die Verheerungen und Verwerfungen, die Zerstörungen - hier sehe ich die Notwendigkeit, zur Behebung der Schäden eine globale Ressourcensteuerung vorzunehmen, die als begrenzende Rahmenbedingungen der sich selbst organisierenden Netzwerk-Wirtschaft wirken. Untersuchungen analoger Systemdynamiken haben gezeigt, das eine solche dezentrale Selbststeuerung ungleich effektiver und stabiler funktioniert als Formen totaler Zentralsteuerung (vgl. Schlemm 1999).

4.4. Die unbeschränkte Entfaltung der Individualität

Was ist die Grundlage, der Antrieb für eine dezentrale vernetzte Wirtschaft, wenn der Wert als Motor und Vermittler (als "Fetisch") fehlt? Auch diese Antwort liegt eigentlich nahe: Es ist der Mensch selbst. Seine volle und unbeschränkte Entfaltung von Kreativität und Fähigkeiten ist die Voraussetzung des Erfolgs der produktiven und reproduktiven Einheiten. Diese Bedingung gilt intersubjektiv, das heißt, ich habe ein unmittelbares Interesse an der Entfaltung der anderen Menschen, so wie ich mich selbst entfalten will. Vereinfachend ausdrückt ersetzt eine auf unbeschränkter Entfaltung der Individualität basierende Win-Win-Struktur die alte auf Konkurrenz und Ausgrenzung basierende Win-Loose-Struktur. Das Interesse an der Überwindung entfaltungsbehindernder Bedingungen besteht auch kollektiv und ist vor allem auf Langfristigkeit angelegt. Ökologische Zerstörungen, nicht regeneratives Aufbrauchen von Ressourcen, Ausgrenzung von Menschen und Lebensweisen, ungleiche Verteilung von Gütern, Diskriminierung nach Geschlechtern etc. sind unter Bedingungen der personal-konkret vermittelten gesellschaftlichen Reproduktion dysfunktional. So, wie solche Erscheinungen unter wertvermittelten Bedingungen "automatisch" erzeugt werden, werden sie unter personal-konkret vermittelten Bedingungen zurückgedrängt oder verhindert. Es ist evident, daß mit der Ersetzung des entfremdeten durch einen personal-konkreten Vergesellschaftungsmodus auch das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben wird. Diese Aufhebung ist aber mehr sekundärer Effekt als primäres Ziel, denn wesentlich schmerzvoller weil tiefgreifender ist die Aufhebung der subjektlosen Wertvermittlung in einer neuen subjektgesteuerten bewußten Vermittlung mittels Kommunikation und Verständigung über das gesellschaftliche Sinnvolle.

Alles schwer vorstellbar? Das ist auch kein Wunder, zu sehr sind wir alle in den alten uns täglich terrorisierenden Formen gesellschaftlicher Reproduktion befangen. Es gibt zwei logische Varianten, dass von mir aufgezeigte Szenario zu kritisieren. Erstens kann die Analyse mit ihren zugehörigen Kategorien in Frage gestellt werden, denn aus der kategorialen Struktur von entfremdet-wertvermittelter und personal-konkreter Produktivkraftentwicklung ist die Möglichkeit der wertbefreiten Gesellschaft ableitbar. Diese gesellschaftstheoretische Diskussion halte ich für notwendig, sinnvoll und nach vorne weisend. Zweitens kann behauptet werden, dass die skizzierten Formen menschlicher Gesellschaft grundsätzlich nicht im Möglichkeitsraum der menschlichen Natur liegen, also gesellschaftsunabhängig dem ontologische Eigenschaften des Menschen entgegenstehen ("Egoismus", "Bereicherungstrieb" etc.). Hier liegt der genuine Beitrag der Kritischen Psychologie, die auf Basis ihrer historisch-genetischen Analysen solche Seinszuschreibungen als das dekonstruieren konnte, was sie sind: Mystifikationen von Erscheinungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Diskussion halte ich zwar für notwendig, aber wenig nach vorne weisend.

4.5. Die Umsetzung

Wie aber soll das konkret aussehen, was kann ich tun? Diese Frage ist deswegen schwer zu beantworten, weil es ja gerade die Eigenschaft selbstorganisierender Prozesse ist, dass sie keine übergeordnete Handlungsleitlinie brauchen, um zu funktionieren. Dem Wert sagt auch keiner, was "er" zu tun hat. Nun ist der verselbstständigte Wert eine analytische Denkfigur von Marx, dennoch erfüllt sich die "Fetischfunktion" des Werts in der Praxis ohne das die Menschen genau das bewußt wollen - die Wertabstraktion bestimmt ganz einfach ihren subjektiven Möglichkeitsraum. Ein neuer Modus kann nur bewußt gegen das subjektlose Wirken des Werts durchgesetzt werden. Eine Möglichkeit ist der komplette oder teilweise Ausstieg aus Verwertungszusammenhängen und die Etablierung neuer Regeln des Austauschs. Es geht um die "Entkoppelung eines sozialen Raums emanzipatorischer Kooperation von Warentausch, Geldbeziehung und abstrakter Leistungsverrechnung." (Kurz, 1997). Die freie Software-Community zeigt wie es geht: Sie ist aus den Verwertungszyklen ausgestiegen und hat in einem selbstgeschaffenen Sonderraum nach eigenen Regeln das (virtuelle) Zusammenleben [11] und Entwickeln von Software organisiert. Nur so war es ihnen überhaupt möglich, ihren Wunsch nach besserer und freier Software umzusetzen. Es ist nicht verwunderlich, dass diese ersten Keimformen im Softwarebereich entstanden sind. Die notwendigen Produktionsmittel, Computer und das Internet, sind zu mäßigen Kosten oder gänzlich frei (an Universitäten) verfügbar. Software hat zudem den Vorteil, nicht an eine besondere Materialität gebunden zu sein. Identische Kopien entwickelter Software können zu sehr geringen Transaktionskosten verteilt werden. Softwareentwickler/innen können außerdem mit begrenztem Einsatz aufgrund hoher Löhne ihr Leben in den klassischen Verwertungzusammenhängen reproduzieren. Hier waren also die Hürden vor dem Ausstieg aus dem Verwertungszyklus relativ gering, dennoch war und ist es auch hier immer eine Entscheidung, sich (verwertungs-) freie Zeit zu schaffen, um an verwertungsfreier Entwicklung teilhaben zu können [12]. Diese Entscheidungen sind in den Bereichen der materiellen Produktion und Reproduktion wesentlicher schwerer zu treffen. Kelly (1998) hat jedoch gezeigt, dass sich im Prinzip die gleichen Dynamiken im Bereich materieller Produktion herausbilden. Außerdem ist nicht zu vergessen, daß Millionen von Menschen die Entscheidung über den Ausstieg aus dem produktiven Verwertungsbereich unfreiwillig "abgenommen" wurde: Sie sind "arbeitslos".

5. Zusammenfassung und Schlußfolgerung

Zwei Elemente kennzeichnen die hier vorgelegte Analyse: die inhaltliche Revitalisierung der Produktivkraft-Kategorie und die kategoriale Bestimmung des Vergesellschaftungsmodus über den Wertbegriff. Während in gängiger Weise Produktivkraft auf den Mittelaspekt (die Technik) als quantitative Größe (Produktivität) verengt wird, ist hier die Produktivkraft-Kategorie als Inhalt, Form und Produktivität der Arbeit gefaßt worden. In ihrer historisierten Form, als Produktivkraftentwicklung, lassen sich qualitativ unterscheidbare Entwicklungsstufen in der Gesellschaftsgeschichte voneinander abheben. Der Wertbegriff, insbesondere der Wert als "sich selbst" maßlos reproduzierender Wert, qualifiziert inhaltlich den gesellschaftlichen Vermittlungsmodus der Produktion und Reproduktion des Lebens. Der Wert ist die sachliche Form eines eigentlich sozialen Verhältnisses, alle gesellschaftlichen Aktivitäten gehen durch diesen Wert "hindurch", werden durch ihn vermittelt. Der Wert ist historisch mit dem ökonomischen und gesellschaftlichen System des Kapitalismus verbunden. Er strukturiert alle gesellschaftlichen Beziehungen, mithin auch die Arbeit und damit auch die Art und Weise der Produktivkraftentwicklung. Gleich entfremdeter Arbeit als abstrakter Arbeit für die Exekution der Wertselbstverwertung ist die entfremdete Produktivkraftentwicklung durch die automatische Wertmaschine präformiert. Historisch löste die entfremdete die personal-konkrete Produktivkraftentwicklung ab, die ihrerseits auf erweiterter Stufenleiter wiederum die Aufhebungsperspektive ist. Die alten Agrargesellschaften waren durch den personal-konkreten Vergesellschaftungsmodus bestimmt, dies jedoch in Form von personalen Zwangsverhältnissen wie Leibeigenschaft etc. Die Aufhebungsperspektive besteht in der freien Entfaltung der Menschen als Selbstzweck, die damit den "Selbstzweck" der Wertselbstverwertung ablöst. Aus der Perspektive der Produktivkraftentwicklung erscheint ihre entfremdete Form als Exkurs der Geschichte, die ihrerseits durch eine personal-konkrete Form aufgehoben wird und das "Rad der Geschichte" eine Umdrehung voran gebracht hat.

Die Keimformen zur Negation der entfremdeten Produktivkraft entstehen bereits unter entfremdeten Vergesellschaftungsbedingungen, sie zeigen sich als "Ausstieg" aus dem Verwertungsmodus und durch Etablierung neuer Regeln, die an der Selbstentfaltung des Menschen und nicht an der Selbstverwertung des Werts orientiert sind. Ein Beispiel ist die weltweite Community zur Entwicklung freier Software wie dem Linux-Betriebssystem. Diese Keimformen zeigen jedoch nur die prinzipielle Möglichkeit auf, sie sind nicht identisch mit einem historischen Subjekt in alter Diktion. Ein solches historisches Subjekt im Sinne einer sozialen Klasse besteht nicht: Jede Artikulation von Interessen in Formen der Wertverwertung reproduziert gleichzeitig diese Bedingungen. Ob eine immanente Bewegung – etwa die klassische Arbeiterbwegung – die Bewegung in Formen des Werts selbst aufheben kann, ist ungeklärt und ohne Beispiel. Sie kann vorerst jedoch nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Weitere Debatten zur Klärung dieser "immanenten Variante" sind erforderlich.

6. Meta-Text

6.1. Versionen-Geschichte

- Version 1.00: Grundlage für den Vortrag vom 22.10.1999 in Berlin
- Version 1.01: kleinere Korrekturen und Verlinkung der Fußnoten
- Version 1.02: Ergänzung der Literaturangabe Peters (1999)

6.2. Literatur:

Glißmann, W. (1999), Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und Mechanismen sozialer Ausgrenzung, in: Herkommer, S. (Hrsg., 1999), Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus, Hamburg: VSA

Holzkamp, K. (1985), Grundlegung der Psychologie. Studienausgabe, Frankfurt/M.: Campus.

Kelly, K. (1998), New Rules for the New Economy, New York: Viking Penguin; deutsch: Kelly, K. (1999), NetEconomy. Zehn radikale Strategien für die Wirtschaft der Zukunft, München: Econ.

Klaus, G. u. Buhr, M. (Hrsg., 1976), Philosophisches Wörterbuch, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut.

Kurz, R. (1997), Antiökonomie und Antipolitik, in: Krisis 19, Bad Honnef: Horlemann, Internet: http://www.magnet.at/krisis/krisisartikel/kurz19.html

Marx, K. (1976), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Frankfurt/Main: Verlag Marxistische Blätter. Identisch mit Marx-Engels-Werke, Band 23, nach der von Friedrich Engels 1890 in Hamburg herausgegebenen vierten Auflage.

Marcuse, H. (1967), Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied: Luchterhand.

Meretz, S. (1999a), Die doppelte algorithmische Revolution des Kapitalismus - oder: Von der Anarchie des Marktes zur selbstgeplanten Wirtschaft. Internet: http://www.kritische-informatik.de/algorev.htm.

Meretz, S. (1999b), Linux - Software-Guerilla oder mehr? Die Linux-Story als Beispiel für eine gesellschaftliche Alternative. Internet: http://www.kritische-informatik.de/linuxsw.htm.

Peters, K. (1999), "Woher weiß ich, was ich will?" Die Abschaffung der Stempeluhr bei IBM, in: ak - analyse & kritik 431, 21.10.1999. Internet: http://www.akweb.de/ak_s/ak431/05.htm.

Schlemm, A. (1996), Daß nichts bleibt, wie es ist...: Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung, Band I: Kosmos und Leben, Münster LIT.

Schlemm, A. (1999), Daß nichts bleibt, wie es ist...: Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung, Band II: Möglichkeiten menschlicher Zukünfte, Münster LIT.

Warnecke, H.-J. (1996), Die Fraktale Fabrik. Revolution der Unternehmenskultur, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch.

6.3. Anmerkungen

[1] vgl. Holzkamp, 1985, S. 34

[2] vgl. Klaus & Buhr, 1976, S. 978f

[3] Was die Vorstellung von der "Neutralität der Technik" anrichten kann, durfte ich 1988 bei einem Delegationsbesuch in einer Dresdner Maschinenbaufabrik erleben. In der Produktion wurde in kleinen Kollektiven jeweils ein komplexerer Arbeitsschritt bewältigt. Heute würde man das "Gruppenarbeit" nennen, doch damals war die japanische Welle noch nicht über Europa eingebrochen. Von der Gruppenarbeit berichtete man uns allerdings nur am Rande, viel stolzer waren die Maschinenbauer auf eine neue japanische CNC-Maschine, die sie für sicher viel Valuta auf verschlungenen Wegen in die DDR und in ihr Werk gebracht hatten. Von ihr erwartete man sich Sprünge nach vorne in der Produktivität der Arbeit. Auf die Frage, warum die Maschine aber ungenutzt in der Halle stehe, erklärte man uns, das man Schwierigkeiten mit der Arbeitsorganisation hätte, denn die Maschine passe nicht in die "alte" Form der Arbeit in kleinen Kollektiven. Man sei aber dabei, die Arbeit in Richtung einer Fließfertigung umzustellen. Damals kam mir die Aussage nur komisch vor, heute mag ich laut aufschreien: Das kann doch nicht wahr sein! Da waren die Dresdner gerade dabei, einen Schritt weg von der tayloristischen Arbeitsorganisation zu gehen, und dann kaufen sie sich mit einer westlichen Maschine genau diese Arbeitsorganisation wieder ein. Wahrscheinlich hatten die Japaner gerade ihre Produktion auf Gruppenarbeit umgestellt und konnten die alte CNC-Maschine nicht mehr gebrauchen!

[4] Vgl. dazu Meretz (1999b), Kapitel 2.

[5] "Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel, und durch Naturverhältnisse." (Marx 1976, 54)

[6] Das Begriffspaar restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit fasst kategorial die grundsätzlich immer vorhandene "doppelte Möglichkeit" des Handelns entweder unter Akzeptanz und struktureller Ausnutzung herrschender Instanzen seine Handlungsfähigkeit auf Kosten anderer (und damit strukturell in Selbstfeindschaft zu sich selbst) zu sichern bzw. auszubauen oder in Koalition mit anderen gemeinsam die einschränkenden Bedingungen zu überwinden und langfristig für alle und damit für sich die Handlungsmöglichkeiten auszubauen (vgl. Holzkamp 1985).

[7] Eine Idealisierung dieser "persönlichen Verhältnisse" ist jedoch völlig unangebracht, denn es handelte sich um personale Zwangsverhältnisse wie Sklavenbesitz, Leibeigenschaft, patriachale Familienstrukturen etc.

[8] "Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital." (Marx 1976, 167f)

[9] GNU General Public License (GPL), auch "Copyleft" genannt, vgl. http://www.gnu.org/copyleft/gpl.html.

[10] Die Verwertungsfreiheit bezieht sich nur auf die freien Softwareprodukte selbst. Es ist klar, das der Kapitalismus wie jede verwertbare Sache auch freie Software in die Verwertung einbezieht. Dank der speziellen Lizenz gelingt dies nur mittelbar, etwa über die Übertragung kommerzieller Software auf freie Betriebssysteme, über kommerzielle Projekte unter Benutzung freier Software, über kommerziellen Support etc.

[11] Das Medium, was das "virtuelle Zusammenleben" vermittelt, ist das Internet. Viele Entwickler/innen kennen sich zwar durchaus "persönlich", aber nicht unbedingt "von Angesicht zu Angesicht".

[12] Auch ich habe mich für einen Teilausstieg entscheiden, wenngleich meine freien Produkte nicht Software, sondern Theorien und Denkformen sind, bei denen ich gleichwohl auf einen möglichst hohen Gebrauchswert hoffe.