Stefan Meretz, Annette Schlemm (März 2000)

Subjektivität, Selbstentfaltung und Selbstorganisation

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Version 1.06, Letzte Änderung: 24.05.2007

Originalquellen:

http://www.kritische-informatik.de/selbstl.htm
http://www.thur.de/philo/selbstl.htm

Ein open-theory-Projekt! Online-Diskussion: http://www.opentheory.org/selbst

Lizenz: GNU Free Documentation License Version 1.1, http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html

In überarbeiteter Form als Kapitel erschienen in: Gruppe Gegenbilder (2000), Freie Menschen in freien Vereinbarungen, Saasen: Eigenverlag, Internet: http://www.opentheory.org/gegenbilder

Inhalt:

1. Geschichte ist die Geschichte der Produktivkraftentwicklung

1.1. Die »Natur-Epoche«: Entfaltung des Naturaspekts der Produktivkraftentwicklung
1.2. Die »Mittel-Epoche«: Entfaltung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung
1.3. Die »Menschen-Epoche«: Entfaltung des Menschen an und für sich
1.4. Zusammenfassung

2. Vergesellschaftung und Herrschaft

2.1. Von der personal-konkreten zur abstrakten Vergesellschaftung
2.2. Die Herrschaft der »schönen Maschine«
2.3. Selbstentfaltung statt Wertverwertung
2.4. Zusammenfassung

3. Freie Menschen in freien Vereinbarungen

3.1. Herrschaft und Gegenstrategien
3.2. Kritik und Gegenbild
3.3. Der Weg zum Neuen

4. Zusammenfassung: Revolution im Fünferschritt

5. Meta-Text

5.1. Versionen-Geschichte
5.2. Literatur
5.3. Anmerkungen


Subjektivität, Selbstentfaltung und Selbstorganisation

Mit der EXPO 2000 wird uns eine schöne Fassade vorgeführt. Die EXPO will uns faszinierende Bilder vermitteln und unsere Herzen für ihr Zukunftskonzept gewinnen. Im Unterschied zu einem Disneyland geht es jedoch nicht um eine fiktive Welt, sondern um unsere reale Zukunft. Diese Zukunft dürfen wir jedoch nicht selber gestalten, sie ist nicht offen, sondern wir haben zu nehmen, was uns die EXPO so bunt auftischt und dürfen dann bestenfalls noch »Nachfragen anregen« (Birgit Breuel, EXPO-Chefin). Wir dürfen die Damen und Herren also höflich fragen, was sie für unsere Zukunft vorgesehen haben.

In diesem Buch machen wir es uns und Euch nicht so »leicht«. Wir tischen Euch nichts auf, was ihr zu schlucken habt, wir verkünden keine Weisheiten. Wir setzen darauf, dass wir zu einer konsequenten Kritik der EXPO-Inhalte nur kommen, wenn wir alle SELBER DENKEN. Einige Überlegungen dazu wollen wir Euch im folgenden vorstellen.

Der Kapitalismus ist totalitär und unmenschlich. Totalitär ist er, weil es nahezu keine Ecke in dieser Gesellschaft gibt, die nicht von ihm erfasst wird. Unmenschlich ist er, weil er durch seine Produktionsweise uns immer schneller unsere natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen unter den Füßen wegzieht und zerstört. »Der Kapitalismus reisst hinten mit dem Arsch mehr ein, als er vorne Waren ausspuckt.« Das ist eine Erfahrung, die viele nachvollziehen können, die wir jeden Tag im Fernsehen zur Kenntnis nehmen müssen. Den schrecklichen Bildern von Zerstörungen, menschengemachten Katastrophen, Kriegen, Vergiftung von Lebensmitteln usw. soll nun mit der Disney-EXPO eine optimistische technologische Zukunftsvision entgegengesetzt werden. Die Botschaft ist: »Ertragt den Kapitalismus nicht bloß nach dem Motto »Da kann man nichts machen�, sondern bejaht ihn fröhlich, ja, auch Ihr Kritiker, kommt zu uns, und arbeitet mit an einer besseren Zukunft und dem EXPO-Motto: Mensch, Technik, Umwelt.«

Doch unsere Gefühle täuschen uns nicht. Wir lassen uns vom bunten und gigantomanischen Potjemkinschen EXPO-Dorf nicht täuschen. Wir machen die Augen nicht zu, sondern wollen verstehen, warum das Grauen so, ist wie es ist, wie es sich entwickelte und welche Alternativen es gibt. Es geht darum, das Fühlen und diffuse Unbehagen in klaren Verstand und Wissen umzusetzen. Respektlos räumen wir dabei auf mit allem Alten, das uns nicht weiterbringt. Das schließt ein, dass nicht wir die Weisheit verkünden, dass nicht wir das »richtige Wissen« gepachtet haben. So etwas funktioniert nicht, das gehört mit zum Alten. Wir entwerfen auch kein Idealbild, dem dann alle hinterher laufen sollen - auch das hatten wir schon. Nein, heute kommt es auf eine/n jede/n selbst an, auf die maximale Entfaltung der eigenen Individualität. Die Selbstentfaltung mit klaren Kopf, das Wegräumen aller Barrieren, die mich und uns daran hindern, ist Strategie und Ziel. Was das heißt, und warum das eine den Kapitalismus sprengende Dynamik beinhaltet, wollen im weiteren Text entwickeln.

Dieser Text ist ein Beitrag zur Selbstverständigung - der individuellen wie kollektiven. Wir diskutieren die Frage »Was ist Emanzipation heute?« und ziehen aus ihrer Beantwortung für viele sicherlich überraschende Schlüsse für ein alternatives Handeln.

Wie gehen wir vor? Zunächst eröffnen wir im ersten Kapitel einen historischen Blick auf die heutige Situation. Man versteht wie etwas ist, wenn man versteht wie es geworden ist. Diese Gewordenheit, das Verständnis des Heutigen als Resultat einer Kette von Entwicklungen eröffnet dann die Möglichkeit, über die zukünftigen Entwicklungspfade nachzudenken. Dabei entwerfen wir kein bloßes Wunschbild, sondern betrachten Geschichte und Zukunft als Entwicklung in Widersprüchen. Überhaupt kann es nicht darum gehen, Wunschbilder zu erzeugen und damit neue Dogmen, nach denen sich andere zu richten hätten, in die Welt zu setzen. Aber die von uns gesuchte Möglichkeit, dass alle die Freiheit haben, ihren eigenen Weg zu suchen und zu gehen, beruht auf dem, was zur Zeit geschieht, und das wollen wir verstehen: Welches sind die Widersprüche, was ist objektiv angesagt und wie geht der Kapitalismus damit um.

Im zweiten Kapitel beschäftigen wir uns mit der Frage: »Worin besteht die Herrschaft?« Vielfältig wird geglaubt, Herrschaft werde als politische Herrschaft von Personen ausgeübt. Das ist aber höchstens die halbe Wahrheit. Herrschaft ist ein viel komplexerer, sich selbst organisierender Mechanismus, in dem es eine einfache Trennung in »die da oben« und »wir hier unten« nicht gibt. Wir entwickeln eine »entpersonalisierende« Sichtweise, die es einem leichter ermöglicht, die eigene Eingebundenheit anzusprechen und Handlungsalternativen zu entwickeln.

Im dritten Kapitel bemühen wir uns darum, all das vorher Analysierte in einer positiven Utopie zusammenzuführen. Wir erläutern was wir unter »Selbstentfaltung« verstehen und erklären, warum Selbstentfaltung Strategie und Ziel der Emanzipation ist. Dabei beschäftigen wir uns intensiv mit Hindernissen und Widersprüchen in emanzipatorischen Bewegungen.

In gewisser Weise handelt es sich bei diesem Text um eine kumulative Arbeit, die zahlreiche Einzeltexte zusammenfaßt und zuspitzt. Wir werden teilweise Begriffe aus diesen Einzeltexten verwenden und nur mit kurzen Erklärungen versehen. Ausführliche Herleitungen finden sich in den Einzeltexten, auf die wir an gegebener Stelle hinweisen.

Vielleicht sollten wir Euch die Bemerkung mit auf den Weg geben, dass Euch beim Weiterlesen nicht etwa nur altbekannter Marxismus aufgetischt wird, auch wenn einige Worte stark danach klingen. Es geht um das, was in der Welt wirklich passiert und wie man das besser verstehen kann. Wo uns Marx dabei hilft, haben wir ihn genutzt, ansonsten vieles neu und weiter entwickelt.

1. Geschichte ist die Geschichte der Produktivkraftentwicklung

Wir Menschen unterscheiden uns von den Tieren dadurch, dass wir uns mit den vorgefundenen Existenzbedingungen nicht einfach abfinden, sondern unsere Lebensbedingungen aktiv selbst herstellen. Wir »haben« nicht nur einfach einen biologischen Stoffwechsel, sondern wir verwenden für unseren »Stoffwechsel mit der Natur« selbst hergestellte Arbeitsmittel. Seit Bestehen der Menschheit haben sich die Arbeitsmittel und die Arbeitsformen schon oft verändert. Wie der Zusammenhang von Mensch, Natur und Mitteln, die der Mensch zur Naturbearbeitung einsetzt, historisch jeweils beschaffen ist, faßt der Begriff der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, oder kurz: Produktivkraftentwicklung. Schematisch können wir den Begriff der Produktivkraftentwicklung (=PKE) so darstellen:

Den aktiven Stoffwechsel des Menschen mit der Natur unter Verwendung von Mitteln nennen wir »Arbeit«. Damit faßt der Begriff der Produktivkraftentwicklung auch die historische Veränderung der Arbeit, ist aber nicht mit diesem identisch. Dies wird deutlich, wenn man sich die drei Dimensionen des Begriffs der Produktivkraftentwicklung ansieht:

  • Inhalt der Arbeit: Art der Produkte, der Bezug zur Natur und die verwendeten Mittel zur Herstellung
  • Form der Arbeit: Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation
  • Produktivität der Arbeit: produzierte Gütermenge je Zeiteinheit.

Oft wird die Produktivkraft der Arbeit mit Produktivität der Arbeit verwechselt. Damit werden jedoch die qualitativen Aspekte des Inhalts und der Form der Arbeit in ihren historischen Entwicklungen ausgeblendet. Auch Karl Marx, von dem der Begriff ursprünglich stammt, war nicht frei von solchen Verkürzungen.

Noch einmal zusammengefaßt: Produktivkraftentwicklung ist ein Verhältnisbegriff. Er faßt das Dreiecksverhältnis des arbeitenden Menschen, der unter Verwendung von Mitteln Stoffwechsel mit der Natur betreibt und auf diese Weise sein Leben produziert. Historisch verändert sich die Produktivkraftentwicklung mit ihren drei Dimensionen nicht kontinuierlich, sondern in qualitativen Sprüngen. Im Schnelldurchlauf durch die Geschichte wollen wir diese Sprünge nun nachzeichnen.

Wie wir sehen werden, kann man die Geschichte auf Grundlage des Begriffs der Produktivkraftentwicklung in drei große Epochen einteilen. In jeder dieser Epochen steht ein Aspekt des Dreiecksverhältnisses von Mensch, Natur und Mitteln im Brennpunkt der Entwicklung. In den agrarischen Gesellschaften wurde die Produktivkraftentwicklung vor allem hinsichtlich des Naturaspekts entfaltet, in den Industriegesellschaften steht die Revolutionierung des Mittels im Zentrum - na, und was mit dem Menschen als dem dritten Aspekt passiert, ist die spannende Frage, auf die wir weiter unten eingehen werden.

1.1. Die »Natur-Epoche«: Entfaltung des Naturaspekts der Produktivkraftentwicklung

Alle Gesellschaften bis zum Kapitalismus waren von ihrer Grundstruktur her agrarische Gesellschaften. Ob matrilineare Gartenbaugesellschaft, patriachalische Ausbeutergesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft oder Feudalismus - in allen Gesellschaften stand die Bodenbewirtschaftung in der Landwirtschaft und bei der Gewinnung von Brenn- und Rohstoffen unter Nutzung von einfachen Mitteln sowie menschlicher und tierischer Antriebskraft im Mittelpunkt der Anstrengungen. Mit Hilfe der hergestellter Arbeitsmittel - vom Grabstock bis zum Pflug und zur Bergbautechnik - holten die Menschen immer mehr aus dem Boden heraus, während die Art und Weise der Weiterverarbeitung der Bodenprodukte bis zum Nutzer relativ konstant blieb. Die eigenständige Fortentwicklung der Arbeitsmittel und Werkzeuge war jedoch durch Zünfte und andere Beschränkungen begrenzt.

Qualitative Veränderungen innerhalb der »Natur-Epoche« zeigen sich vor allen bei der Form der Arbeit. Die landwirtschaftlichen Produzenten im Feudalismus waren mehrheitlich Leibeigene ihrer Feudalherren, waren so im Unterschied zum Sklaven also nicht personaler Besitz. Trotz Abgabenzwang und Frondiensten war der relative Spielraum der Fronbauern zur Entfaltung der Produktivkraft der Arbeit größer als bei den Sklaven, die - da personaler Besitz - gänzlich kein Interesse an der Verbesserung der Produktion hatten. Der Natur angepasste Fruchtfolgen und die Mehrfelderwirtschaft waren wichtige Errungenschaften in dieser Zeit. Aufgrund des höheren Mehrprodukts konnten sich Handwerk und Gewerbe, die von der Bodenbewirtschaftung mitversorgt werden mussten, rasch entwickeln.

Exkurs: Wie entwickelt sich Entwicklung?

Diese Frage ist nicht nur wichtig, um die Vergangenheit zu verstehen. Da wir selbst in den Lauf der Geschichte eingreifen wollen, müssen wir wissen, wie sie »funktioniert«, an welchen Stellen wir wie am sinnvollsten wirken können.

Keimformen des Neuen entwickeln sich immer schon im Alten. Sie werden stärker, werden zu einer nicht mehr zu übersehenden Funktion im noch alten System, übernehmen dann die bestimmende Rolle und transformieren schließlich das alte Gesamtsystem in ein Neues, in dem sich alles nun nach der neuen dominanten Funktion ausrichtet. Dieser beschriebene Prozeßablauf ist typisch für dialektische Entwicklungsprozesse. In allgemeiner Form kann man fünf Stufen für qualitative Entwicklungssprünge so beschreiben (Holzkamp 1983):

  1. Entstehen der neuen Keimformen, die sich später entfalten
  2. Veränderung der Rahmenbedingungen des alten dominanten Gesamtprozesses (»Krisen«)
  3. Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen Entwicklungsdimension neben der noch dominanten Funktion des Gesamtprozesses (erster Qualitätssprung)
  4. Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)
  5. Umstrukturierung des Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der neuen bestimmenden Entwicklungsdimension

Da es allgemein beschrieben ist, klingt das naturgemäß etwas abstrakt. Anschaulicher wird die Fünfschrittlogik, wenn man reale Entwicklungsprozesse danach befragt. Schauen wir uns den ersten qualitativen Übergang in der Abfolge der Epochen der Produktivkraftentwicklung an.

1.2. Die »Mittel-Epoche«: Entfaltung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung

Die agrarische Produktion bestimmte zwar die gesellschaftliche Struktur, dennoch gab es in den Städten Lebens- und Produktionsformen, die dem unmittelbaren feudalen Zugriff entzogen waren: »Stadtluft macht frei« (Keimformen der Stufe 1). Die Städte wurden nun immer wichtiger für die steigenden repräsentativen und militärischen Bedürfnisse der herrschenden Feudalklasse (Stufe 2: veränderte Rahmenbedingungen). Ausgehend von gesicherten bürgerlichen Zonen inmitten des Feudalismus, den Städten, entfalteten Handwerker und vor allem Kaufleute ihre ökonomischen Aktivitäten (Stufe 3: Funktionswechsel). Der Einsatz geraubten und erhandelten Kapitals der Kaufleute sowie die Entwicklung von kombinierten Einzelarbeiten der Handwerker in der Manufaktur zum aus einseitigen Teilarbeitern bestehenden »kombinierten Gesamtarbeiter« (Marx 1976/1890, 359) in der Fabrik ermöglichten eine Übernahme der ökonomischen Basis durch die neue bürgerliche Klasse. Mit der Manufakturperiode, auch als Frühkapitalismus bezeichnet, begann die Umstrukturierung des alten feudalen zum neuen bürgerlichen ökonomischen System, das sich schließlich durchsetzte (Stufe 4 des Fünfschritts). Die industrielle Revolution sorgte endgültig dafür, dass sich der umgreifende gesamtgesellschaftliche Prozess nach den Maßgaben der kapitalistischen Wertverwertung ausgerichtet wurde (letzte Stufe des Fünfschritts).

Wir sehen, wie Keimformen des Neuen - bei den Handwerkern stand die Mittelbearbeitung schon im Mittelpunkt ihrer Arbeit - in einem neuen Kontext eine neue Funktion bekam und schließlich von allen Schranken befreit die gesamte Gesellschaft umstülpte. Um das genauer zu verstehen, lohnt es sich, den neuen dominanten Gesamtprozess genauer zu betrachten (vgl. auch Meretz 1999a). Im Fokus des neuen dominanten Gesamtprozesses steht die Revolutionierung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung. Dies wird sichtbar, wenn man die drei Bestandteile des industriellen Prozesses genau untersucht und auf ihre früheren Keimformen zurückführt. Marx (1976/1890, 393) erkannte die drei Bestandteile des industriellen Prozesses:

  • Energiemaschine (bei Marx: »Bewegungsmaschine«)
  • Prozeßmaschine (bei Marx: »Werkzeugmaschine oder Arbeitsmaschine«)
  • Algorithmusmaschine (bei Marx: »Transmissionsmechanismus«)

Die Keimformen der Energiemaschine liegen in der tierischen und menschlichen Kraftanstrengung. Ihre Übertragung auf eine Maschine sorgt für die ortsunabhängige und erweiterbare Verfügbarkeit von (zunächst mechanischer, später elektrischer) Antriebsenergie. Die Keimformen der Prozeßmaschine liegen in den (mechanischen und chemischen) Handwerkertätigkeiten, die in einem technischen Prozeß vergegenständlicht und damit gleichzeitig entsubjektiviert wurden. Die Keimformen der Algorithmusmaschine lagen im Erfahrungswissen des Handwerkers über die sachliche und zeitliche Abfolge der verschiedenen Prozessschritte. Wir sehen, dass alle drei Bestandteile vorher in einer Person vereint sein konnten. Die große Industrie trennt und entsubjektiviert diese Bestandteile sukzessive und macht sie damit einer eigenständigen wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich. Die modernen Naturwissenschaften entstanden.

Marx wies nach, dass die Prozeßmaschine der Ausgangspunkt der industriellen Revolution war - und nicht wie heute noch fälschlich angenommen wird, die Energiemaschine (»Dampfmaschine«). Die Prozeßmaschine war der Kern der »Mittelrevolution«, die Übertragung des Werkzeuges des Handwerkers auf eine Maschine erst erforderte die Dampfmaschine, um den gewaltig steigenden Energiebedarf der Industrie zu befriedigen. Die industrielle Revolution verwissenschaftlichte vor allem die Prozeßmaschine sowie sekundär die Energieproduktion.

Prozeßmaschine und Algorithmusmaschine waren zunächst noch gegenständlich in einer Maschine vereint. Der algorithmische Produktionsaspekt sollte seine historische Stunde erst später erfahren. Auch rückblickend wird das bisher leider nur unzureichend wahrgenommen. Viele lesen den Marxschen »Transmissionsmechanismus« nur als bloße Energieübertragung und vernachlässigen daher diesen Bestandteil des industriellen Prozesses. Ein schwerer Fehler, denn nur wenn man den algorithmischen Produktionsaspekt erkennt, kann man die nachfolgenden Umwälzungen innerhalb des Kapitalismus auch verstehen. Diese immanenten Umwälzungen stellen fortwährende »Mittel-Revolutionierungen« dar, überschreiten also die »Mittel-Epoche« der Produktivkraftentwicklung nicht. Als immanente Qualitätsumschläge lassen sie sich gleichfalls nach dem vorgestellten Fünfschritt untersuchen, worauf wir hier aber aus Gründen der Vereinfachung verzichten.

Durch die Revolutionierung der Mittel wurden die arbeitenden Menschen zu Anhängseln an den Maschinen degradiert. Frauen und Kinder mußten von nun an in den Fabriken schuften. Anpassung an den Rhythmus der Maschine, geistige Verödung und endlose Arbeitsqual nahmen zu und bestimmten den Alltag. Marx zitiert im Kapital eine Reihe bürgerlicher Ökonomen, die zugaben, dass diese Art der Produktion endgültig die »rebellische Hand der Arbeiter ... (nieder)zwingt«. Gleichzeitig jedoch ermöglicht die Maschinerie in der großen Industrie die Entwicklung neuer Fähigkeiten der Arbeiter und muß »unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle humaner Entwicklung umschlagen« (Marx, 1976/1890, 514). Aber gerade die negativen Folgen dieser Produktionsweise für die Psyche der Menschen machen uns heute noch zu schaffen.

Fordismus: Die erste algorithmische Revolution

Anfänge der Algorithmisierung der Produktion gibt es mit den ersten komplizierten oder kombinierten Werkzeugmaschinen. Die Übertragung der Werkzeugführung des Handwerkers auf eine Maschine vergegenständlichte sein algorithmisches Prozeßwissen. Aus der bloßen Vergegenständlichung handwerklicher Einzelprozesse wird schließlich die wissenschaftliche Bearbeitung des gesamten Produktionsprozesses, die die historische handwerkliche Arbeitsteilung vollends aufhebt:

»Dies subjektive Prinzip der Teilung fällt weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier objektiv, an und für sich betrachtet, in seine konstituierenden Phasen analysiert, und das Problem, jeden Teilprozeß auszuführen und die verschiednen Teilprozesse zu verbinden, durch technische Anwendung der Mechanik, Chemie usw. gelöst...« (Marx, 1976/1890, 401).

Der Fordismus, benannt nach dem Autohersteller Ford, führte die Algorithmisierung der Produktion konsequent durch. Augenfälligstes Resultat dieser Algorithmisierung war das Fließband, das bald alle Wirtschaftsbereiche als »Leitbild« bestimmte. Die Entfernung jeglicher Reste von Subjektivität der arbeitenden Menschen aus der Produktion war das Programm der Arbeitswissenschaft von Frederick W. Taylor (1911). Robert Kurz formuliert diesen Prozess in drastischer Weise so:

»Hatte die Erste industrielle Revolution des Handwerkszeug durch ein maschinelles Aggregat ersetzt, das den fremden Selbstzweck des Kapitals an den Produzenten exekutierte und ihnen jede Gemütlichkeit austrieb, so begann nun die Zweite industrielle Revolution in Gestalt der »Arbeitswissenschaft� damit, den gesamten Raum zwischen Maschinenaggregat und Produzententätigkeit mit der grellen Verhörlampe der Aufklärungsvernunft auszuleuchten, um auch noch die letzten Poren und Nischen des Produktionsprozesses zu erfassen, den »gläsernen Arbeiter� zu schaffen und ihm jede Abweichung von seiner objektiv »möglichen� Leistung vorzurechnen - mit einem Wort, ihn endgültig zum Roboter zu verwandeln.« (Kurz, 1999, 372).

Der Mensch wurde zum vollständigen Anhängsel der Maschine, in der der von Ingenieuren vorgedachte Algorithmus des Produktionsprozesses vergegenständlicht war. Diese Produktionsweise basierte auf der massenhaften Herstellung uniformer Güter. Dem entsprachen auf der Seite der Administration die Betriebshierarchien und das Lohnsystem und gesamtgesellschaftlich der Sozialstaat. Dies war auch die hohe Zeit der organisierten Arbeiterbewegung. Ihr Bemühen um straffe Organisation, besonders in den kommunistischen Parteien, hing mit ihren Erfahrungen in der Arbeitsrealität zusammen. Eine zentrale Organisation zur Bündelung von Massen war ihr Ideal. Die einzelnen Menschen waren in der Arbeit und der politischen Organisation lediglich »Rädchen im Getriebe«.

Marx hebt den Aspekt der Kooperation in der industriellen Produktion positiv hervor:

»...unter allen Umständen ist die spezifische Produktivkraft des kombinierten Arbeitstags gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit oder Produktivkraft gesellschaftlicher Arbeit. Sie entspringt aus der Kooperation selbst. Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.« (Marx, 1976/1890, 349).

Aus der Vorstellung, dass es nicht die Arbeiter seien, die das Zusammenwirken der Arbeiter planen, sondern die Kapitalisten einzig zum Zwecke der Profitmaximierung, schlossen die kommunistischen Parteien, dass die Kapitalisten zu entmachten seien. Im positiven Marxschen Sinne stünde dann der vollen Entfaltung des Gattungsvermögens nichts mehr im Wege - ein Kurzschluss, wie sich zeigen wird (vgl. Kapitel 2).

Die Krise des Fordismus

Wenn mit der fordistischen Durchstrukturierung der Gesellschaft die algorithmische Revolution vollendet wurde, wie sind dann die inzwischen gar nicht mehr so neuen Tendenzen der flexibilisierten Produktion und der »Informationsgesellschaft« zu bewerten? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass nach einem qualitativen Entwicklungsschritt, also nachdem der umgreifende Gesamtprozess auf die Erfordernisse der neuen bestimmenden Entwicklungsdimension (hier: der Algorithmisierung der Produktion) hin umstrukturiert wurde, die Entwicklung nicht stehen bleibt. Die letzte Stufe als innere Ausfaltung des neuen Systems, als Vordringen der gegebenen Entwicklungstypik in die letzten Winkel der Gesellschaft, ist erst abgeschlossen, wenn sich die inneren Entfaltungsmöglichkeiten des Systems erschöpft haben, wenn Änderungen der Rahmenbedingungen nicht mehr durch Integration und innere Entfaltung aufgefangen werden können, wenn die Systemressourcen aufgebraucht sind (vgl. Schlemm 1996).

Gleichzeitig entstehen Keimformen neuer Möglichkeiten, und die Veränderung der Rahmenbedingungen, die das System selbst erzeugt, wird zusehends zur Bedrohung für das System selbst. Das alte System erzeugt selbst die Widersprüche, die es auf vorhandenem Entwicklungsniveau nicht mehr integrieren kann. Entfaltung in alter Systemlogik (Stufe 5), Herausbildung neuer Keimformen (Stufe 1) und Widerspruchszuspitzung durch selbst erzeugte systemgefährdende Widersprüche (Stufe 2) verschränken sich also. In einer solchen Situation befinden wir uns gegenwärtig, und von hier aus kann man auch die Integrationsversuche der Widersprüche in alter Systemlogik bewerten.

Das System »totaler Algorithmisierung«, die Massenproduktion, die gleichartige Massenbedürfnisse befriedigt, wurde von Marcuse (1967) zutreffend als »eindimensionale Gesellschaft« bezeichnet, die den »eindimensionalen Menschen« hervorbringt. Der Kapitalismus ist mit dem Herausdrängen der Subjektivität aus der Produktion, mit der algorithmischen Vorwegnahme jedes Handgriffes vom Anfang bis zum Ende der Produktion in eine Sackgasse geraten. Fordistische Produktion ist zu starr. Als sich die Zyklen von Massenproduktion und Massenkonsum erschöpft hatten, und ab Mitte der Siebziger Jahre zyklisch Verwertungskrisen einsetzten, begann die innere gesellschaftliche Differenzierung. Nur wer die Produktion flexibel auf rasch ändernde Bedürfnisse einstellen konnte, bestand in den immer kürzeren Verwertungszyklen. Die flexible Produktion vergrößerte den individuellen Möglichkeitsraum und trieb so die Individualisierung voran. Gleichzeitig werden fordistische Errungenschaften wie die sozialstaatlichen Absicherungen abgebaut und immer mehr Menschen aus den Verwertungszyklen ausgegrenzt (»Arbeitslosigkeit«). Nicht nur ökologisch gesehen zehrt das Verwertungssystem seine eigenen Grundlagen langsam auf.

Zwei Auswege werden versucht, und beide Versuche werden uns auf der EXPO als große Lösungen der Menschheitsprobleme präsentiert. Die erste Variante ist ein technologischer Ansatz, mit dem versucht werden soll, die Starrheit der fordistisch durchalgorithmisierten Produktion aufzulösen. Die zweite Variante besteht Re-Integration der menschlichen Subjektivität in die Produktion. Beide Ansätze bedingen einander und werden im folgenden dargestellt.

Toyotismus: Die zweite algorithmische Revolution

Der Toyotismus, benannt nach dem Autohersteller Toyota, versucht als Ausweg die Flexibilität als Merkmal in der Produktion algorithmisch zu vergegenständlichen, er algorithmisiert die Algorithmisierung selbst. Anders als zur Zeit des Fordismus wird nicht bloß der gedachte Produktionsablauf exakt festgelegt und in Formen von Maschinen und starrer Arbeitsorganisation und Hierarchien »gegossen«, sondern es wird die Möglichkeit der Änderbarkeit des Ablaufes, die Manigfaltigkeit der möglichen Einsätze der Werkzeugmaschinen, die Modulariät der Einheiten in der Fließfertigung bereits vorweggenommen und als Merkmal in der Produktion realisiert.

Diese Algorithmisierung in neuer Größenordnung ist eng verbunden mit dem Übergang von der Hardwareorientierung (die Maschine als vergegenständlichter analoger Algorithmus) zur Softwareorientierung und damit Digitalisierung, also mit der Trennung von Prozeßmaschine und Algorithmusmaschine. Die separierte Algorithmusmaschine ist der Computer, die Algorithmen steuern als Software die flexiblen Prozeßmaschinen. Die Bedeutung des informationellen Anteils in der Produktion wächst beständig, Computer dringen in alle Bereiche vor, die der Produktion vor- und nachgelagert sind. Die informationelle Integration von der Bestellung über das Internet bis zur Auslieferung und Abrechnung der Ware ist das große Ideal.

Auslöser dieses Entwicklungsschubes sind die veränderten Marktanforderungen. Den Profit können nurmehr diejenigen sicherstellen, die in kurzer Zeit auf geänderte Marktanforderungen reagieren können. Nicht die Fähigkeit zur massenhaften Produktion eines nachgefragten Produkts überhaupt entscheidet (wie im Fordismus), sondern die Fähigkeit zur Realisation dieser Anforderung innerhalb kürzester Zeit. Dieser technologische Ausweg ist sehr begrenzt, er nimmt jedoch auf der EXPO breiten Raum ein. Mit dem Postulat des Entstehens einer Informationsgesellschaft werden Lösungen versprochen, die zahlreiche globale Probleme endlich beseitigen sollen. Doch dieses Postulat ist weder neu noch real, sondern entlarvt sich inzwischen auch in der Praxis als ideologische Konstruktion (vgl. Meretz 1996).

Der zweite Ansatz der Wiedereinbindung menschlicher Subjektivität in die Produktion ist besonders interessant, denn er steht für die generelle Möglichkeit einer neuen Qualität der Produktivkraftentwicklung. Die Vertreter des Kapitals haben das erkannt - und versuchen die darin liegenden Potenzen im kapitalistischen Sinne der Verwertungslogik unterzuordnen. Das wird im nächsten Kapitel behandelt.

1.3. Die »Menschen-Epoche«: Entfaltung des Menschen an und für sich

Nach agrarischer und industriell-technischer Produktivkraftentwicklung bleibt eine Dimension im Verhältnis von Mensch, Natur und Mitteln, die noch nicht Hauptgegenstand der Entfaltung war, und das ist der Mensch selbst. Doch der Mensch ist definitionsgemäß bereits »Hauptproduktivkraft«, soll er sich nun »selbst entfalten« wie er die Nutzung von Natur und Technik entfaltet hat? Ja, genau das! Bisher richtete der Mensch seine Anstrengungen auf Natur und Mittel außerhalb seiner selbst und übersah dabei, dass in seiner gesellschaftlichen Natur unausgeschöpfte Potenzen schlummern. Diese Potenzen waren bisher durch Not und Mangel beschränkt oder die Einordnung in die abstrakte Verwertungsmaschinerie kanalisiert. Sie freizusetzen, geht nur auf dem Wege der unbeschränkten Selbstentfaltung jedes einzelnen Menschen.

Der Begriff der Selbstentfaltung darf dabei nicht mit dem öfter gebrauchten Begriff der »Selbstverwirklichung« verwechselt werden. Es geht nicht darum, eine persönliche »Anlage« oder »Neigung« in die Wirklichkeit zu bringen, sie wirklich werden zu lassen. Diese Vorstellung individualisiert und begrenzt die eigentlichen Möglichkeiten des Menschen: Wenn es »wirklich« geworden ist, dann war's das. Entfaltung bedeutet demgegenüber schrittweise und kumulative Realisierung menschlicher Möglichkeiten auf dem jeweils aktuell erreichten Niveau. Selbstentfaltung ist also unbegrenzt und geht nur im gesellschaftlichen Kontext. Selbstentfaltung geht niemals auf Kosten anderer, sondern setzt die Entfaltung der anderen notwendig voraus, da sonst meine Selbstentfaltung begrenzt wird. Im Interesse meiner Selbstentfaltung habe ich also ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen. Diese kumulative gesellschaftliche Potenz läuft unseren heutigen Bedingungen, unter denen man sich beschränkt nur auf Kosten anderer »verwirklichen« kann, total zuwider.

Dennoch haben die Sachwalter des Kapitals als Exekutoren der Wertverwertungsmaschine erkannt, dass der Mensch selbst die letzte Ressource ist, die noch qualitativ unentfaltete Potenzen der Produktivkraftentwicklung birgt. In seiner maßlosen Tendenz, alles dem Verwertungsmechanismus einzuverleiben, versucht das Kapital auch diese letzte Ressource auszuschöpfen. Die Methode ist einfach: Die alte unmittelbare Befehlsgewalt über die Arbeitenden, die dem Kapitalisten qua Verfügung über die Produktionsmittel zukam, wird ersetzt durch den unmittelbaren Marktdruck, der direkt auf die Produktionsgruppen und Individuen weitergeleitet wird. Sollen doch die Individuen selbst die Verwertung von Wert exekutieren und ihre Kreativität dafür mobilisieren - bei Gefahr des Untergangs und mit der Chance der Entfaltung. Wilfried Glißmann, Betriebsrat bei IBM in Düsseldorf, beschreibt den Mechanismus so:

»Die neue Dynamik im Unternehmen ist sehr schwer zu verstehen. Es geht einerseits um »sich-selbst-organisierende Prozesse�, die aber andererseits durch die neue Kunst einer indirekten Steuerung vom Top-Management gelenkt werden können, obwohl sich diese Prozesse doch von selbst organisieren. Der eigentliche Kern des Neuen ist darin zu sehen, daß ich als Beschäftigter nicht nur wie bisher für den Gebrauchswert-Aspekt, sondern auch für den Verwertungs-Aspekt meiner Arbeit zuständig bin. Der sich-selbst-organisierende Prozeß ist nicht anderes als das Prozessieren dieser beiden Momente von Arbeit in meinem praktischen Tun. Das bedeutet aber, daß ich als Person in meiner täglichen Arbeit mit beiden Aspekten von Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit unmittelbar konfrontiert bin. Einerseits mit den Gesetzmäßigkeiten im technischen Sinne (hinsichtlich der Schaffung von Gebrauchswerten) und andererseits mit den Gesetzmäßigkeiten der Verwertung. Ich bin als Person immer wieder vor Entscheidungen gestellt. Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung.« (Glißmann 1999, 152)

Nun verschleiert die Aussage, vor dem toyotistischen Umbruch nichts mit der Verwertung zu tun gehabt zu haben, sicher die realen Verhältnisse. Richtig ist aber, dass nach dem Umbruch die bisher nur mittelbare Marktkonfrontation einer unmittelbaren gewichen ist. So wie sich die Wertverwertung gesamtgesellschaftlich »hinter dem Rücken« der Individuen selbst organisiert, ausgeführt durch das »personifizierte Kapital« [1], die Kapitalisten (Manager etc.), so werden nun die Lohnabhängigen selbst in diesen Mechanismus eingebunden. Resultate dieser unmittelbaren Konfrontation mit dem Verwertungsdruck sind annähernd die gleichen wie zu Zeiten der alten Kommandoorganisation über mehrere Hierarchieebenen: Ausgrenzung vorgeblich Leistungsschwacher, Kranker, sozial Unangepasster, Konkurrenz untereinander, Mobbing, Diskrimination von Frauen etc. - mit einem wesentlichen Unterschied: Wurde vorher dieser Druck qua Kapitalverfügungsgewalt über die Kommandostrukturen im Unternehmen auf die Beschäftigten aufgebaut, so entwickeln sich die neuen Ausgrenzungsformen nahezu »von selbst«, d.h. die Beschäftigen kämpfen »jeder gegen jeden«. In der alten hierarchischen Kommandostruktur war damit der »Gegner« nicht nur theoretisch benennbar, sondern auch unmittelbar erfahrbar. Gegen das Kapital und seine Aufseher konnten Gewerkschaften effektiv Gegenmacht durch Solidarität und Zusammenschluß organisieren, denn die Interessen der abhängig Beschäftigten waren objektiv wie subjektiv relativ homogen. In der neuen Situation, in der die Wertverwertung unmittelbar und jeden Tag an die Bürotür klopft, sind Solidarität und Zusammenschluß unterminiert - gegen wen soll sich der Zusammenschluß richten? Gewerkschaften und Marxist/inn/en ist der Kapitalist abhanden gekommen! War die alte personifizierende Denkweise und entsprechende Agitationsform schon immer unangemessen, schlägt sie heute erbarmungslos zurück. Nicht mehr »der Kapitalist« (oder »das Kapital« oder »der Boss«) ist der Gegner, sondern »der Kollege« oder »die Kollegin« nebenan. Die IBM-Betriebsräte nennen das »peer-to-peer-pressure-Mechanismus« (Glißmann 1999, 150).

1.4. Zusammenfassung

Menschliches Leben basiert auf dem Stoffwechsel mit der Natur. Durch Arbeit unter Nutzung von Mitteln betreibt der Mensch diesen Stoffwechsel. Historisch verläuft diese Stoffwechselbeziehung des Menschen zur Welt in qualitativ unterscheidbaren Epochen ab. Jeweils ein Aspekt des Mensch-Natur-Mittel-Verhältnisses steht in den Epochen im Mittelpunkt der Entfaltung, jede nachfolgende Epoche baut auf dem Entwicklungsgrad der vorhergehenden Epoche auf. In den agrarischen Gesellschaften dominiert der Naturaspekt, in den Industriegesellschaften steht das Mittel im Zentrum, und die zukünftige Gesellschaft wird durch die volle Entfaltung der menschlichen Subjektivität, wird durch die Selbstentfaltung des Menschen bestimmt sein. Diese Entwicklungsrichtung der Selbstentfaltung des Menschen wird von den Kapitalvertretern gesehen. Sie versuchen die »Ressource Mensch« unter die Bedingung der kapitalistischen Vergesellschaftung zu stellen. Vergesellschaftung - ein neuer Begriff ist gefallen. Er spielt im nächsten Kapitel die Hauptrolle.

2. Vergesellschaftung und Herrschaft

Mit dem Begriff der Produktivkraftentwicklung haben wir die ökonomische Entwicklung als Ganze erfasst. Welche Rolle spielen aber die Einzelnen in diesem Prozess, wie werden die gesamtgesellschaftlichen Strukturen individuell vermittelt, wer bestimmt über den Gesamtprozess, wer herrscht? Um diesen Fragen näher zu kommen, müssen wir den Begriff der Vergesellschaftung einführen. Wie wir sehen werden, bedingen sich Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftung.

Schon der Begriff der »Gesellschaft« ist unanschaulich, denn »Gesellschaft« kann man nicht sehen oder anfassen. Gesellschaft ist ein rekonstruktiver Begriff, der im Denken einen realen, aber unanschaulichen Sachverhalt fassen soll. Gesellschaft ist der überindividuelle Zusammenhang, der das Leben jedes Einzelnen vermittelt. Gesellschaft ist damit mehr als bloße Geselligkeit oder Sozialität, die Gesellschaft ist der unabhängig von konkreten Individuen selbstständig funktionsfähige Zusammenhang, der durchschnittlich von diesen Individuen geschaffen wird, ja werden muss, da er sonst ja nicht existieren würde. Diese eigentümliche Eigenschaft der Gesellschaft, die einerseits allgemein von Individuen geschaffen werden muss, andererseits aber von konkreten Individuen unabhängig ist, bestimmt die charakteristische Beziehung des einzelnen Menschen zur Gesellschaft. Da die Gesellschaft auch ohne mein unmittelbares Zutun funktioniert, habe ich grundsätzlich eine Möglichkeitsbeziehung zur Realität. Es gibt keinen Sachverhalt, der mein Handeln unmittelbar determiniert. Ich kann handeln, muss es aber nicht oder kann auch anders handeln. Diese gesellschaftliche Natur mit der eingeschlossenen, grundsätzlichen Möglichkeits- oder Freiheitsbeziehung zur Welt kommt nur den Menschen zu!

Wenn nun aber das Handeln der Menschen nicht unmittelbar »ausgelöst« werden kann, wie erhält sich dann die Gesellschaft? Wie kommt es zu den »durchschnittlich« notwendigen Beiträgen der Einzelnen? Der Grund ist die Tatsache, dass niemand sein Leben ungesellschaftlich reproduzieren kann. Die individuelle Existenz ist grundsätzlich immer gesellschaftlich vermittelt. Die Herstellung des Vermittlungszusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft nennt man nun Vergesellschaftung. Und wie kann es anders sein, auch die Form der Vergesellschaftung, wir nennen das Vergesellschaftungsmodus, hat sich historisch qualitativ verändert. Der Vergesellschaftungsmodus beschreibt sozusagen den grundsätzlichen Handlungsrahmen, in dem die Individuen ihr individuelles Leben durch Beteiligung an der gesellschaftlichen Reproduktion erhalten. War die Beschreibung der Produktivkraftentwicklung der inhaltliche Aspekt menschlicher Gesellschaftsgeschichte, so erfasst der Vergesellschaftungsmodus die Formseite des gleichen Prozesses. Die Geschichte als Geschichte der Produktivkraftentwicklung ist also eigentlich erst wirklich verstehbar, wenn man die Form, innerhalb derer sie sich entfaltet, rekonstruiert. Das wollen wir jetzt tun.

2.1. Von der personal-konkreten zur abstrakten Vergesellschaftung

In den agrarischen Gesellschaften der »Natur-Epoche« wurde die Vergesellschaftung über personale Abhängigkeitsbeziehungen reguliert. Der Sklave war Besitz des Sklavenhalters, der Fron-Bauer arbeitete zu großen Teilen für »seinen« Feudalherrn oder seinen Pfaffen. Dies bedeutet nicht, dass die Abhängigen den Herrscher auch persönlich kennen mussten, aber es war klar, zu wem sie »gehörten«. Auch die nicht-herrschaftsförmigen Beziehungen innerhalb der bäuerlichen Gemeinde waren personal strukturiert. Allein die regionale Begrenztheit bäuerlichen Handelns aufgrund fehlender oder unerschwinglicher Transportmittel erklärt die sprichwörtliche »Beschränktheit« und »Enge« des bäuerlichen Daseins. Entsprechend war auch die Produktion neben der Erfüllung der abgepressten Fron an den konkreten Bedürfnissen der dörflichen Gemeinschaften orientiert. Ein abstraktes Anhäufen von Reichtum war weder gewollt noch möglich, gute Ernten wurden direkt in höheren Lebensgenuss und ausgedehntere Muße umgesetzt. Entsprechend der personal vermittelten Struktur der Gesellschaft und der am Gebrauchswert der Dinge orientierten Produktionsweise kann man die Mensch-Natur-Mittel-Beziehung bei der Produktion der Lebensbedingungen als personal-konkrete Produktivkraftentwicklung bezeichnen.

Mit dem Einsetzen der »Mittel-Epoche« und dem Aufstieg des Kapitalismus änderte sich der Vergesellschaftungsmodus vollständig. Mit Gewalt wurden alle personal strukturierten Beziehungen zerschlagen und durch einen abstrakten Vergesellschaftungsmodus ersetzt. Aus dem Bauern wurde der »doppelt freie« Lohnarbeiter, »frei« von Boden und »frei«, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Aus dem ursprünglichen Schatzbildner, dem Händler oder feudalen Räuber, wurde der Warenproduzent, der Kapitalist. Zu Recht nennt man diese Raubphase, die der Entfaltung des Kapitalismus vorausging, nicht nur die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« (Marx 1976/1890, 741)[2], sondern auch »ursprüngliche Expropriation« (Lohoff, 1998, 66), da die Menschen von allen Mitteln »enteignet« wurden, die ihnen eine kapitalismusunabhängige Grundversorgung bot. Das »Bauernlegen« in England ist legendär. In Indien brachen die englischen Kolonialisatoren den Webermeistern die Finger, damit sich englische Kleidung auf dem indischen Subkontinent durchsetzen konnte.

Wie aber funktioniert diese abstrakte Vergesellschaftung? Die Grundlagen dafür hat Karl Marx im Kapitel »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis« des »Kapital« aufgedeckt. Im Feudalismus waren die gesellschaftlichen Verhältnisse durch persönliche Abhängigkeiten bestimmt. Die Arbeitsprodukte gehen in ihrer konkreten, in ihrer Naturalform in die gesellschaftliche Reproduktion ein. Entsprechend charakterisiert Marx die Arbeit:

»Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form.« und: »...die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen, der Arbeitsprodukte.« (Marx 1976/1890, 91f)

Die Besonderheit, die Konkretheit, die Nützlichkeit der Dinge bestimmt die Arbeit, und die bestimmt die gesellschaftlichen Verhältnisse als »persönliche Verhältnisse« [3].

Anders im Kapitalismus, hier sind persönliche Verhältnisse »verkleidet« in Verhältnisse von Sachen. Wie ist das zu verstehen? Im Kapitalismus wird nicht auf direkte Verabredung des gesellschaftlichen Bedarfs produziert, sondern in Form »voneinander unabhängig betriebener Privatarbeiten« (Marx 1976/1890, 87). Diese Produkte werden dann im Tausch einander als Werte gleichgesetzt, was bedeutet, sie als geronnene Arbeitszeiten gleichzusetzen. Die Produkte werden entsinnlicht, ihre jeweilige Besonderheit, Konkretheit und Nützlichkeit interessiert nicht mehr, es interessiert nurmehr der Wertinhalt. Damit wird die Arbeit nicht mehr durch die Besonderheit, Konkretheit und Nützlichkeit bestimmt, sondern einzig durch die Tatsache, dass sie Wert vergegenständlicht. Der Wertvergleich, also Vergleich von Arbeit(szeit) auf dem Markt ist ein sachliches, von der Konkretheit der Dinge abstrahierendes Verhältnis. In dieses »Verhältnis der Sachen« sind die persönlichen Verhältnisse »verkleidet«, sie bestimmen alle gesellschaftlichen Verhältnisse. Marx faßt das in einem Satz so zusammen:

»Die Gleichheit der menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten betätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte.« (Marx 1976/1890, 86).

Die Herstellung von gesellschaftlichen Beziehungen als Beziehungen von Sachen erhält seine subjektlose Dynamik durch die Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz. Wert »ist« nur Wert, wenn er Kapital wird, wenn der Wert sich auf dem Markt auch wirklich realisiert, wenn er auf Wert in Geldform trifft und in Kapital umgewandelt wird, wenn er die Konkurrenz um das beschränkte Geld auf dem Markt gewinnt. Die Verwertung von Wert ist dauerhaft nur sichergestellt, wenn Wert zu Kapital wird, um die nächste Runde des Warenzirkulation anzutreiben. Das Kapital ist Ausgangs- und Endpunkt einer sich stetig steigernden Spirale der Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz:

»Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist ... Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.« (Marx 1976/1890, 167)

Die Wertabstraktion, die Verdinglichung menschlicher Beziehungen, hat verschiedene Erscheinungen: als Ware, als Geld, als Lohn. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind damit der Vermittlung durch den Wert unterworfen, so auch die Arbeit und die Produktivkraftentwicklung. Wir sprechen daher für die »Mittel-Epoche« von entfremdeter Produktivkraftentwicklung. Die abstrakte Vergesellschaftung über den Wert ist der klassische Fall einer »sich selbst organisierenden Bewegung«. Diese Selbstorganisation des Werts ist selbst subjektlos, mehr noch, sie unterwirft jedes Subjekt unter seine maßlose Bewegung. Damit tritt die Gesellschaft den Menschen - obschon von ihnen geschaffen - als Fremde gegenüber:

»Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.« (Marx 1976/1890, 89)

Es schien eine Befreiung zu sein, die persönlichen Abhängigkeiten des Feudalismus zu verlieren. Allerdings erkaufte man sich dies mit einer »ordnenden, aber unsichtbaren Hand« (Adam Smith) für die Gesellschaftsorganisation. Es entstanden sachliche Mächte, vorwiegend auf den »Märkten«, denen gegenüber alle Menschen gleich sein sollten:

»Da die Verallgemeinerung von Geldbeziehungen aber nur durch die Konstitution anonymer, großräumiger Märkte möglich war, mußte sie zusammen mit der Tendenz zur totalen Vereinzelung auch die Tendenz zur totalen Konkurrenz bringen. Denn der anonyme, sozial unkontrollierte Vergleich der Waren weit voneinander entfernter Produzenten, die in keinerlei kommunikativer Beziehung mehr zueinander stehen, entfesselt das sogenannte »Gesetz von Angebot und Nachfrage�: Die Waren müssen über den Preis miteinander konkurrieren, und somit unterliegt auch die Produktion dem stummen Zwang der Konkurrenz. Das bedeutet, daß der gesellschaftliche Zusammenhang der »vereinzelten Einzelnen� nur noch negativ durch die ökonomische Konkurrenz hergestellt wird.« (Kurz 1999, 36).

Geld als Kapital löst alle alten Gemeinwesen auf, vereinzelt die Menschen und wird stattdessen zum sachlichen »realen Gemeinwesen« (Marx 1983/1857, 152). Nicht mehr der Gebrauchswert der Ware oder auch der Geldschatz stehen im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern der Wert selbst wird »automatisches Subjekt« (Marx 1976/1890, 169). Die Versachlichung schleicht sich auch in das Leben selbst. Das Kapital als herrschende Sache »existiert ... in Verfahrensabläufen, objektiven Produktionsabläufen und materialisiert in Konzernpalästen, Autobahnen, Fernsehern, Raketen, Doseneintopf.« (Pohrt 1995, 122f).

Auch die Art der Arbeit hat sich komplett gewandelt. War sie vor dem Kapitalismus primär auf die konkret-sinnliche Produktion von Gebrauchswerten ausgerichtet, die dazu dienten, das Leben zu sichern und angenehmer zu gestalten, so ist sie im Kapitalismus nurmehr abstrakte Arbeit für Geld. Was produziert wird, ist irrelevant, die Arbeit hat mit einem besseren Leben nichts mehr zu tun. Erst über den Umweg des Geldes sind Güter zugänglich, die gewissermaßen als »Abfallprodukt« der abstrakten Verwertung von Wert auf der Grundlage der von anderen geleisteten abstrakten Arbeit »anfallen«. Der Konsum, ein besseres Leben, ist und war immer nur zufälliges Nebenprodukt der Verwertung abstrakter Arbeit. Dies wird heute umso deutlicher, da die Produktion von Waren mit einem besseren Leben immer weniger zu tun hat. Die Qualität der Produkte sinkt, die Zerstörungen, die bei ihrer Herstellung angerichtet werden, stehen in keinem Verhältnis mehr zu ihrem Nutzen - die Milch, die erst vier Länder bereist, um endlich als Joghurt auf unserem Tisch zu landen, mag die Absurdität dieser Produktionsweise illustrieren.

2.2. Die Herrschaft der »schönen Maschine«

Lange Zeit sah man in der Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung des produzierten Mehrwerts das zentrale Problem des Kapitalismus. Folglich bestand in der Eroberung der Verfügung über die entscheidenden Produktionsmittel der Schlüssel zu einer gerechteren Welt. Doch was ist gewonnen, wenn »die Arbeiter die Macht« haben? Die historischen Erfahrungen wurden in den realsozialistischen Ländern gemacht. Diese Versuche scheiterten nicht vorrangig an subjektiven Fehlern, sondern weil sie objektiv den gleichen Gesetzen der maßlosen Selbstverwertung von Wert unterlagen, wie alle anderen Staaten der Erde auch, und in der globalen Konkurrenz schließlich kapitulieren mußten. Was ist gewonnen, wenn die Beschäftigen »ihre Firma« übernehmen? Sie müssen den gleichen Gesetzen gehorchen, wie die private Konkurrenzfirma auch. Die automatische Geldmaschine duldet keine Ausnahmen. Hans-Olaf Henkel, Chef des Unternehmervereins, hat diesen totalitären Mechanismus so auf den Punkt gebracht:

»Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch, sondern der Markt. (...) Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet.« (Süddeutsche Zeitung, 30.05.1996)

Es geht also nicht um einen bösen Willen, den finstere Mächte durchsetzen, sondern um die Befolgung der Regeln des kybernetischen Systems Kapitalismus. Marx nannte die Rollen, die die Menschen in der sich selbst reproduzierenden Wertmaschinerie einnehmen, »Charaktermasken« [4]. Der Kapitalist als »personifiziertes Kapital« exekutiert den immanenten Zwang zur Expansion und Niederringung der Konkurrenz wie der Arbeiter als »Lohnarbeiter« seine Arbeitszeit verkaufen muss, um zu existieren. Und selbst diese Grenzen sind heute fliessend. Gibt es also keine Herrschenden, die man ob der Ungerechtigkeiten anklagen muss? Doch die gibt es, aber es ist nicht damit getan, Personen auszutauschen oder die »Macht« zu übernehmen. Solange die Grundstrukturen der kapitalistischen Geldmaschine unangetastet bleiben, ändert sich nichts. Die ökologische Marktwirtschaft ist eine Schimäre. Wir müssen das Programm, dass Adam Smith 1759 formulierte, sehr ernst nehmen:

»Es macht uns Vergnügen, die Vervollkommnung eines so schönen und großartigen Systems zu betrachten und wir sind nicht ruhig, bis wir jedes Hindernis, das auch nur im mindesten die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen stören oder hemmen kann, beseitigt haben.« (Smith 1977/1759, zitiert nach Kurz 1999).

Die Rolle der Herrschenden ist es, das Laufen der »schönen und großartigen« Wertmaschine ungestört aufrecht zu erhalten. Jeder Gedanke an eine Alternative zur Geldmaschine soll als irreal diskreditiert werden - wenn schon »Alternative«, dann nur innerhalb der »schönen Maschine« (Kurz 1999). Hier hat die EXPO ihre Funktion. Sie soll uns die »Schönheit« und »Großartigkeit« des Systems demonstrieren und Alternativen innerhalb des System vorgaukeln. Inzwischen lassen sich selbst frühere Kritiker/innen weltweiter Ausbeutungsstrukturen in die Rechtfertigungsveranstaltung EXPO einbinden. Sie tragen mit dazu bei, das System der Marktwirtschaft als System der Herrschaft der Märkte über die Menschen zu naturalisieren. Als Beispiel mag der tschechische Präsident Václav Havel dienen:

»Sosehr auch mein Herz schon immer links von der Mitte meiner Brust schlug, habe ich immer gewußt, daß die einzig funktionierende und überhaupt mögliche Ökonomie die Marktwirtschaft ist. (...) Die Marktwirtschaft ist für mich etwas so selbstverständliches wie die Luft: geht es doch um ein jahrhundertelang (was sage ich - jahrtausendelang!) erprobtes und bewährtes Prinzip der ökonomischen Tätigkeit des Menschen, das am besten der menschlichen Natur entspricht.« (Havel 1992, 59ff).

Fazinierend ist die Dreistigkeit, mit der die Marktwirtschaft nicht nur der menschlichen Natur, sondern auch noch der gesamten Menschheitsgeschichte zugeschlagen wird. Oder es ist bodenlose Unkenntnis der historischen Fakten, die klar zeigen, dass die abstrakte Selbstverwertung des Werts über Märkte mit brutaler Gewalt und Zwang, dass die »ursprüngliche Enteignung« gegen die subsistenzwirtschaftlichen Strukturen [5] der agrarischen Gesellschaften durchgesetzt wurde. Es ist schlicht falsch, einen »Markt« zum Gütertausch mit dem geldgetriebenen Hamsterradsystem der Marktwirtschaft gleichzusetzen. Nicht überall, wo ein Markt zum Tausch von Gütern existiert, herrscht auch die »Marktwirtschaft«!

Seit ihrem Beginn im Jahre 1851 in London sind Weltausstellungen technologische Demonstrationen kapitalistischer Macht, die EXPO 2000 macht hier keine Ausnahme. Die realen Probleme der Erde und ihrer Bewohner sind zwar nicht mehr verdrängbar - etwa so, wie man das zum Beispiel auf der jährlichen Internationalen Automobilausstellung noch wunderbar kann. Doch bei der EXPO wird auf die globalen Probleme schematisch mit zwei Antworten reagiert: Die globalen Probleme sind lösbar, wenn man dem Welthandel freien Lauf lässt, ihn »liberalisiert« und wenn die richtigen Technologien zum Einsatz kommen. Im Kern heisst das, der Kapitalismus reguliere schon alles selbst und bringe auch von selbst die richtigen Technologien zur Lösung der Menschheitsprobleme hervor. Hier von Zynismus zu sprechen, ist schon fast eine Untertreibung, war und ist es doch der Kapitalismus, der erst die Probleme in ihrer globalen Dimension produziert und systematisch die Lebensgrundlagen der Menschheit untergräbt. Die »schöne Maschine«, in der Nützlichkeit bestenfalls ein Abfallprodukt der stets erweiterten Wert-Verwertung ist, soll nun ganz von selbst die Lösung mit Technologie bringen, soll die Zerstörungen durch »alte« Technologien mit »neuen« wieder gerade biegen?

Für die EXPO ein technisches Problem:

»Wir brauchen ein neues Verhältnis zur Umwelt und zum technischen Fortschritt, damit die globalen Probleme von heute gelöst werden können. Deshalb soll die EXPO 2000 Hannover ein Forum für innovative Lösungen und Lösungsansätze sein, mit denen überall auf der Welt ein tragfähiges Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ökologie angestrebt werden soll.« (EXPO 2000 Hannover GmbH).

Verbal ist »Öko« in, Leitlinie ist die Agenda 21, das »Aktionsprogramm«, das als Ergebnis der UN-Umweltkonferenz in Rio 1992 beschlossen wurde. Doch wenn man sich die Mühe macht und die voluminöse Agenda liest, dann stellt man fest: 90% Wortblasen (»Nachhaltigkeit«, »Verantwortung«, »Zukunft« etc.) und 10% Technologiefetischismus, Paternalismus, Ausgrenzung - wie an anderer Stelle in diesem Buch ausführlich dargestellt. Technik kann und darf nur als Aggregat der »schönen Maschine« gedacht werden, um die Lösung der globalen Probleme geht es letztlich überhaupt nicht. Und »Nachhaltigkeit« bezieht sich einzig auf die »Nachhaltigkeit der Profitrealisierung«. Es kann auch nicht anders sein, denn die selbstzweckhafte Wert-Verwertungsmaschine kennt keinen Zweck ausserhalb der Vermehrung von Geld. Die vielen gutmeinenden Menschen und auch Politiker/innen können einem fast Leid tun, bleibt ihnen doch nichts weiter als die Hoffnung, dass bei der Wert-Verwertung auch etwas für die Menschen und die Natur abfallen möge. Doch die Blütezeit des Kapitalismus ist vorbei, der »Abfall« ist Abfall im wörtlichen Sinne, die Nützlichkeit der produzierten Dinge verschwindet nahezu völlig hinter den sozialen und ökologischen Verheerungen. Die vielen Probleme globaler Dimension verdichten sich zu dem globalen Problem überhaupt, und das ist der Kapitalismus selbst.

2.3. Selbstentfaltung statt Wertverwertung

Doch gibt es überhaupt eine Alternative außerhalb der »schönen Maschine«? Wir hatten schon herausgefunden, dass der nächste logische und praktische Schritt in der Produktivkraftentwicklung die Entfaltung des Menschen an-und-für-sich ist. Was heißt das aber für die Form der Vergesellschaftung?

Die unbeschränkte Selbstentfaltung des Menschen ist unter den Bedingungen der subjektlosen Selbstverwertung von Wert als rückgekoppelter Kern der »schönen Maschine« undenkbar. Selbstentfaltung bedeutet ja gerade, dass sich das Subjekt selbst entfaltet, und zwar jedes Subjekt und das unbegrenzt. Dennoch gibt es auch unter entfremdeten Bedingungen der abstrakten Arbeit neue Möglichkeiten, denn neben den Effekten der Entsolidarisierung gibt es gleichzeitig auch einen größeren Handlungsspielraum, ein Mehr an Entfaltungsmöglichkeiten und Verantwortung als zu alten Kommandozeiten. In der unmittelbaren Arbeitstätigkeit sind die Handlungsrahmen weiter gesteckt als vorher:

»Es gilt das Motto: »Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein�« (Glißmann 1999, 151).

Innerhalb dieses vergrößerten Handlungsrahmens kann ich in größerem Maße als früher meine individuellen Potenzen entfalten, weil ich selbst an meiner eigenen Entfaltung interessiert bin, weil es Spaß macht und meiner Persönlichkeit entspricht. Die Bedingungen, dass ich mich selbst als Hauptproduktivkraft entfalte, sind im Vergleich zu meinen Eltern und Großeltern schon besser geworden, gleichwohl geschieht dieses Mehr an Entfaltung immer noch unter entfremdeten Bedingungen. Die Entfaltung ist nur möglich, solange ihre Ergebnisse verwertbar sind, solange ich profitabel bin. Sogar die Love-Parade wird damit zum profitablen Geschäft. In meiner Person spiegelt sich damit der unter unseren Bedingungen nicht auflösbare Widerspruch von Selbstentfaltung und Verwertung, von Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch an-und-für-sich und entfremdeter Produktivkraftentwicklung.

Wie sieht die Aufhebung des Widerspruches von Selbstentfaltung und Verwertungszwang in Überschreitung unserer Bedingungen aus? Es geht um die Umkehrung des Satzes von Marx, wonach die »gesellschaftliche Bewegung« durch eine »Bewegung von Sachen« kontrolliert wird, »statt sie zu kontrollieren«. Marx hätte das so sagen können:

»Die gesellschaftliche Bewegung wird von den Menschen bewußt bestimmt. Die Bewegung von Sachen wird von den Menschen kontrolliert und dient einzig dem Zweck, ein befriedigendes Leben zu gewinnen.« (Marx, nie aufgeschrieben).

Die Alternative zur abstrakten subjektlosen selbstorganisierenden Vermittlung der gesellschaftlichen Reproduktion durch den Wert (als Bewegung von Sachen) ist die konkrete selbstorganisierte Vermittlung durch die handelnden Menschen selbst - das ist so einfach wie logisch! Oder anders formuliert: Die abstrakte Vergesellschaftung über den Wert wird ersetzt durch eine konkrete Vergesellschaftung der handelnden Menschen selbst. Wir wollen daher auch diese zukünftige Form personal-konkrete Produktivkraftentwicklung nennen. Bedeutet das ein Zurück zu den alten Zeiten der »Natur-Epoche«? Nein, so wie die »Mittel-Epoche« die »Natur-Epoche« aufgehoben hat, so wird die Epoche der menschlichen Selbstentfaltung alle vorherigen Entwicklungen aufheben. »Aufheben« bedeutet dabei sowohl Ablösen als auch Bewahren und in einem völlig neuen Kontext fortführen. Es ist klar, das Menschen natürlich weiter Nahrungsmittel und industrielle Güter produzieren werden, doch es ist ebenso klar, dass sie dies nicht in der gleichen Weise wie bisher tun werden - ganz einfach, weil die bisherige Produktionsweise die Reproduktionsgrundlagen der Menschheit systematisch zerstört.

Wie geht es Dir, wenn Du diese Zeilen liest? Denkst Du auch »Das ist ja utopisch«? Dann geht es Dir genauso wie den meisten. Die herrschende abstrakte Vergesellschaftungsform über den Wert hat alle Lebensbereiche so weit durchdrungen, dass ein Leben ausserhalb dessen schier undenkbar erscheint. Kannst Du Dir ein Leben ohne Geld, das über die Lebensmöglichkeiten von Menschen bestimmt, vorstellen? Ein Leben mit »einfach nehmen« statt »kaufen«? Es ist nicht einfach, das zu denken, darum versuchen wir das »Undenkbare« noch weiter zu skizzieren - in Kapitel 3. Hier geht es uns zunächst einmal darum, zu begründen, dass die Wertvergesellschaftung nicht das Ende der Geschichte darstellt, sondern dass eine personale Vergesellschaftung historisch-logisch die entfremdete Form aufheben kann.

Die Tatsache, dass es eine abstrakte Instanz, den Wert, gibt, über den sich die gesellschaftlichen Beziehungen regulieren, hat auch eine positive Funktion: Sie entlastet die Gesellschaftsmitglieder, jeden Einzelnen individuell von der Notwendigkeit, »die ganze Gesellschaft« zu denken. Ich muss mich nur mit meinem unmittelbaren Umfeld beschäftigen, alles andere regelt sich schon. So paradox es klingt: Die personalisierende Denkweise ist unter entfremdeten Bedingungen nahegelegt, obwohl sich die Gesellschaft gerade nicht über das Wollen von Personen, sondern über den abstrakten Mechanismus der maßlosen Wertvermehrung reguliert. Hieraus haben linke Bewegungen den Schluss gezogen, dass die Totalität des amoklaufenden Werts durch eine kontrollierte Totalität einer umfassenden gesellschaftlichen Planung abgelöst werden müsse. Wie wir wissen, sind alle Versuche mit gesellschaftlicher Gesamtplanung gescheitert. Diese praktische Erfahrung ist auch theoretisch nachvollziehbar, denn die kommunikativen Aufwände, die notwendig wären, um die individuellen und die gesellschaftlichen Bedürfnisse miteinander zu vermitteln, also die Vergesellschaftung praktisch zu leisten, sind schier unendlich hoch. Selbst Räte oder andere Gremien können das Problem der immer vorhandenen Interessenkonflikte nicht stellvertretend aufheben. Auch für den Einzelnen ist die Notwendigkeit, die eigenen Interessen mit unendlich vielen anderen Interessen zu vermitteln, eine völlige Überforderung.

Eine neue Vergesellschaftungsform kann nur den gleichen individuell entlastenden Effekt haben, wie die sich selbst organisierende Wertmaschine - nur, dass sie ohne Wert funktioniert! Gesucht ist also ein sich selbstorganisierender »Mechanismus«, der einerseits die Vergesellschaftung quasi »automatisch« konstituiert, andererseits aber die abstrakte Vergesellschaftung durch eine personal-konkrete Form ablöst. Das hört sich wie ein Widerspruch an, ist es aber nicht! Man muss sich nur von der Vorstellung verabschieden, die Gesellschaft müsse planvoll von irgendeiner Art zentraler Instanz gelenkt werden. Diese Vorstellung enthält immer das Konzept eines Innen-Außen: Die Planer - ob Räte, Behörde, Diktatoren - stehen gleichsam außerhalb der Gesellschaft und planen diese. Die Planer planen für uns, oder noch deutlicher: sie planen uns. Das geht aber ganz grundsätzlich nicht, denn kein Mensch ist planbar und vorhersehbar. Die Alternative zu stellvertretenden Planung kann nur die Selbstplanung der Gesellschaft sein.

Eine Selbstplanung der Gesellschaft setzt strukturell eine Konvergenz allgemeiner Interessen voraus. Das ist im Kapitalismus unmöglich. Der Kapitalismus kennt überhaupt nur Partialinteressen, die jeweils nur gegen andere Partialinteressen durchsetzbar sind. Eine gelungene Vermittlung der Partialinteressen trägt dann den Namen »Demokratie« - das kann es aber nicht sein. Kann es aber eine Konvergenz allgemeiner Interessen geben? Sind die individuellen Interessen und Wünsche nicht sehr verschieden, will nicht eigentlich jeder doch irgendwie etwas anderes? Ja, und das ist auch gut so! Unter unseren Bedingungen schließt diese Frage jedoch immer mit ein, diese »Wünsche«, dieses »andere Wollen« muß auch gegen andere - ob individuell oder im Zusammenschluss mit anderen, die die gleichen Partialinteressen haben - durchgesetzt werden. Wir hatten aber vorher herausgefunden, dass die Selbstentfaltung des Menschen nur funktioniert, wenn sich alle entfalten können und dies auch real tun. Unter Bedingungen der Selbstentfaltung habe ich ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen Menschen. Etwas vereinfacht gesprochen steht der Win-Loose-Situation im Kapitalismus eine Win-Win-Situation in der zukünftigen Gesellschaft gegenüber.

Schön und gut, aber wie kommen denn nun die Brötchen auf den Tisch? Was ersetzt denn nun den Wert als selbstorganisierenden Mechanismus der Vergesellschaftung? Aber das ist es doch gerade: Die Selbstentfaltung des Menschen ersetzt diesen abstrakten Mechanismus durch eine personal-konkrete Vermittlung der Menschen! Selbstentfaltung bedeutet ja nicht Abschaffung der Arbeitsteilung. Das bedeutet, ich beziehe mich weiterhin nicht auf die »gesamte« Gesellschaft, sondern weiterhin nur auf den Ausschnitt der Gesellschaft, der mir zugekehrt ist. Wie groß dieser Ausschnitt ist, entscheide ich je nach Lage. Entfalten sich die Menschen um mich herum und ich darin fröhlich vor sich hin, dann besteht kein Grund, den gesellschaftlichen Ausschnitt zu vergrößern. Gibt es aber Einschränkungen meiner Selbstentfaltung, die nicht meinem unmittelbaren Handeln zugänglich sind, dann werde ich den Blick weiten, um die Ursachen der gemeinsamen Einschränkungen aus der Welt zu schaffen. Da mein Leben nicht mehr auf die Heranschaffung des Abstraktums »Geld« ausgerichtet ist, bekommen die Einschränkungen für mich eine völlig neue konkrete Bedeutung: Sie schmälern in direkter Weise meinen Lebensgenuss. Da diese Einschränkungen meiner Selbstentfaltung auch für alle anderen beschränkend sind, liegt es unmittelbar nahe, die Einschränkungen im gemeinsamen Interesse zu beseitigen. Im eigenen und gleichzeitig allgemeinem Interesse werden wir uns die personalen und konkreten Vermittlungsformen suchen, die notwendig sind, um Einschränkungen unseres Lebensgenusses aus der Welt zu schaffen. Allgemeiner formuliert: Jedes menschliche Bedürfnis findet auch seine Realisierung - und ist das Bedürfnis mein einzig alleiniges auf der Welt, dann realisiere ich es eben selbst. Da das aber bei den Brötchen auf dem Tisch nicht der Fall sein dürfte, wird es für das Problem »Brötchen auf dem Tisch« eine allgemeine Lösung geben.

Wir haben also gelernt, dass es mit der Selbstentfaltung des Menschen eine andere, individuell entlastende Form der Vergesellschaftung geben kann. Wenn man sich per Fingerschnipp in die neue Gesellschaft versetzen könnte, ist diese Utopie schon fast vorstellbar. Aber wie kommt man dahin, wo doch die Menschen und wir alle so durchdrungen sind von Verwertungszwang und Konkurrenzkampf? Das ist die Frage nach den Inhalten und Formen linker politischer Bewegungen heute. Diese Frage diskutieren wir im Kapitel 3.

2.4. Zusammenfassung

Wir haben die gesellschaftliche Vermittlungsformen, die Vergesellschaftungsmodi, innerhalb der sich die Produktivkraftentwicklung bewegt, rekonstruieren können. Interessanterweise stellen wir keine schematische »Höherentwicklung« der Formen der Vergesellschaftung fest, sondern eher eine »spiralförmige« Bewegung. In der »Natur-Epoche« fand die Produktivkraftentwicklung in personal-strukturierten, konkreten Vergesellschaftungsformen statt. Mit dem Übertritt in die »Mittel-Epoche« wurde die kleinliche bäuerlich-handwerkliche Enge zerschlagen und die Produktivkraftentwicklung in abstrakte, entfremdete Bahnen gelenkt. Die kapitalistische Marktwirtschaft entfaltet ihre totalitäre subjektlose Herrschaft bis in alle Winkel der Erde. Kern dieser Vergesellschaftungsform ist die Verwertung von Wert als Selbstzweck. Die eigenen inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems, der immanent nicht aufhebbare Widerspruch zwischen Selbstentfaltung und Verwertungszwang, drängt auf die Ablösung des abstrakten Vergesellschaftungsmodus durch eine neue personal-konkrete Vergesellschaftungsform mit der individuellen Selbstentfaltung als Selbstzweck statt der abstrakten subjektlosen selbstzweckhaften Wertverwertung als ihrem Kern. Somit hebt die personal-konkrete Produktivkraftentwicklung auf neuer Entwicklungsstufe die entfremdete Produktivkraftentwicklung auf, die ihrerseits das Ende der personal-konkreten Produktivkraftentwicklung agrarisch-handwerklicher Provinienz bedeutete. Diese allgemeinen Rahmenbestimmungen schließen keinerlei Aussagen über das Transformationsproblem ein, also die Frage, wie denn das totalitäre und alle Reproduktionsgrundlagen der Menschheit untergrabende System der Marktwirtschaft abgelöst werden kann. Mit einigen am Ziel gemessenen Richtungsaussagen wollen wir uns im nächsten Kapitel noch näher befassen.

3. Freie Menschen in freien Vereinbarungen

In diesem Kapitel wollen wir auf dem schwierigen Grad wandern, der zwischen dem illusionistischen Ausmalen einer lichten Zukunft und dem Verweigern jeglicher Angaben perspektivischer Entwicklungen liegt. Was wir leisten können, ist - ausgehend von unser Einschätzung der Lage und Entwicklungstendenzen in den vorigen Kapiteln - Rahmenkriterien und Alternativen zu bestehenden verfehlten Ansätzen zu benennen. Die Zukunft ist vorstellbar, vorausgesagt werden kann sie aber nicht.

Es reicht nicht aus, nur ganz allgemein »gegen Herrschaft« und »für Emanzipation« zu sein. Das, wogegen und wofür man sich einsetzt, muß inhaltlich genauer bestimmt und entsprechend der realen Situation erkannt werden. Wir haben bereits in Kapitel 2 die Herrschaftsformen benannt, der wir uns entgegenstellen. Charakteristisch war die Tatsache des subjektlosen ökonomischen Mechanismus, der unabhängig von konkreten Personen sich-selbstorganisierend reproduziert, deren reibungsloses Laufen die Herrschenden aber mit aller Gewalt sicherstellen. Mit den konkreten Erscheinungsformen und möglichen Gegenstrategien wollen wir uns hier auseinandersetzen.

3.1. Herrschaft und Gegenstrategien

Die moderne Herrschaft beruht nicht mehr primär auf persönlich ausgeübter Macht, sondern ist - wie wir gesehen haben viel fataler - strukturell verankert. Zusätzlich bedient sie sich heute Formen, die scheinbar progressiv klingen, wie »Multikulturalismus«, »Nachhaltigkeit« usw. Deshalb ist sie so schwer durchschaubar, aber es gibt Möglichkeiten. Christoph Spehr, auf den wir uns beziehen wollen [6], unterscheidet allgemeine Merkmale von Herrschaft (a), die Formen, unter denen sie aktuell ausgeübt wird (b) - und schlägt Gegenstrategien (c) vor (1999, 252ff.):

A. Direkte Gewalt

(a) Merkmal: Anwendung direkter Gewalt zur Aufrechterhaltung von »Ordnung«.

(b) Formen: »Neue Weltordnung« befriedigt anscheinend die alte Sehnsucht nach mehr oder weniger friedlicher Konfliktlösung und die Ablehnung von Diktaturen.

(c) Gegenstrategien: Gegenmacht aufbauen, Selbstverteidigung, aktiver Widerstand:

»Wer nicht in der Lage ist, der anderen Seite weh zu tun, hat nichts Nennenswertes zu erwarten.« (Spehr 1999, 184).

B. Strukturelle Gewalt

(a) Merkmal: Die Produktion ist so organisiert, dass einigen allein daraus eine höhere Bestimmungsgewalt zufällt als der Mehrheit (siehe auch E.).

(b) Formen: Die »Globalisierung« setzt unhinterfragt voraus, dass ökonomische Opfer gebracht werden müssen - die Debatte geht nur noch darum, bei wem. (»ökonomischer Rassismus«).

(c) Gegenstrategien: Sabotage, Schwächung dessen, was die Gegenseite stark macht - auch wenn es gegen die eigenen unmittelbaren ökonomischen Interessen gerichtet ist!

C. Diskriminierung

(a) Merkmal: »naturgemäße« Vorgaben, wer was zu sagen und zu tun hat.

(b) Formen: »Multikulti« dient dazu, die Bedürfnisse der Menschen auf ihre jeweiligen Kulturen zu reduzieren. Politische Probleme werden als Ausdruck von »Kulturen« gedeutet (Ethnisierung von Konflikten).

(c) Gegenstrategien: Conciousness-Politik, das eigene Selbstbewußtsein gegen Fremddefinitionen entfalten (was »afrikanisch« ist, haben bisher die Kolonialisatoren definiert). Solidarität auf Basis der eigenen Stärke entwickeln.

D. Kontrolle der Öffentlichkeit

(a) Merkmal: »repressive Toleranz« - alle dürfen reden, aber die Wirksamkeit aufgrund besserer Möglichkeiten ist für die Herrschenden einfach größer.

(b) Formen: »Demokratisierung und Zivilgesellschaft« - wer sich unterwirft, darf »partizipieren«.

(c) Strategien: Separatismus, sich den Zusammenhängen verweigern, die zur Integration führen.

E. Existentielle Abhängigkeit

(a) Merkmal (siehe auch B.): Vernichtung der unabhängigen Möglichkeiten zur Reproduktion (Vertreibung der Menschen bei Staudammbauten etc.), Wege zur Bedürfnisbefriedigung werden möglichst umständlich gemacht (lange Autofahrten zum Job, Essen nur über vom Konzern hergestellte Mittel etc.)

(b) Formen: »Nachhaltigkeit« stärkt die existentielle Abhängigkeit von den Verursachern der Probleme:

»Wenn eine soziale Bewegung sich auf die neuen Diskurse einstellt, hat sie schon verloren« (Spehr 1999, 257)

(c) Strategien: Selbstorganisation, Zurückverlagern eines größeren Teils der lebensnotwendigen Interaktionen und Kooperationen in die eigenen Reihen und Kampf und »Wiederaneignung« der Ressourcen, Lebens- und Produktionsmittel.

Von hier aus wird es auch deutlich, dass die Haltung zur EXPO, die Beteiligung an ihr oder der Kampf dagegen - eine Wasserscheide zwischen grundlegend entgegengesetzten Konzepten darstellt. An der EXPO zeigen sich die genannten aktuellen Herrschaftsformen.

Direkte Gewalt durch »neue Weltordnung«: Schon in ihrem Anspruch, Lösungen für die globalen Probleme könnten nur von den »hochentwickelten« Ländern entwickelt werden, verdeutlicht sie die »neue Weltordnung«:

»Für mich hat die EXPO einen hohen Symbolgehalt. In ihr nimmt der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts Gestalt an, nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt« (Hierlmeier 1999)

Strukturelle Gewalt durch Globalisierung und Totalisierung der Marktwirtschaft:

»Die unsichtbare bzw. hier vielmehr die sichtbare Hand des Marktes ist der Superstar der EXPO« (Hierlmeier 1999).

Diskriminierung über »Multikulti«: Die »internationalen Projekte« dienen in keiner Weise dazu, den Menschen der Welt mehr Einfluß auf die globale Zukunft zu geben. An den konkreten Projekten wird deutlich, dass ihnen die Aufgabe zukommt, den Schaden durch die kommerzielle Globalisierung zu begrenzen und dabei paternalistisch betreut zu werden.

Kontrolle der Öffentlichkeit wird hergestellt, indem es Partizipation nur bei Unterwerfung gibt: Als AkzeptanzbeschafferInnen werden soziale, ökologische und viele weitere Organisationen und Einzelpersonen gewonnen oder gekauft, die allein mit ihrem Namen dem Neoliberalismus das »menschliche Antlitz« (oder wahlweise ein ökologisches Gütesiegel) umhängen sollen (Bergstedt 1999a).

Existentielle Abhängigkeit durch »Nachhaltigkeit« wird zementiert:

»Das Konzept behauptet, es wäre möglich, gleichzeitig Wirtschaftswachstum, Ressourcenschonung und den Abbau der weltweiten sozialen Ungleichheiten zu erreichen � selbstverständlich unter Beibehaltung bzw. durch die Ausweitung der bestehenden kapitalistischen Weltordnung. Tatsächlich ist nachhaltige Entwicklung ein von oben betriebenes Programm zur Modernisierung der Herrschaftsverhältnisse« (TIPP-EX 1999).

Die EXPO stellt klar,

»... daß nicht mehr die Menschen, sondern die Konzerne in ihren Forschungsabteilungen über die Zukunft der Gesellschaft bestimmen« (Bergstedt 1999b).

Die Herrschenden sind keine besonderen Menschen. Und es sind auch nicht irgendwelche Menschen fernab von uns. Es sind Menschen, die die selbstmörderische Wertmaschine am Laufen halten, sie rechtfertigen, sie für ihr eigenes Fortkommen auf Kosten anderer benutzen. Dies veranlaßt Spehr, metaphorisch festzustellen, dass die »Aliens«, die in so vielen Mysteryserien und Filmen vorkommen, bereits unter uns sind:

»Die Aliens sind unter uns... Es ist die Erfahrung, daß Leute auf den ersten Blick aussehen wie normale Menschen, wie du und ich, einem fremden Programm folgen, einem feindlichen Programm - der Aneignung fremder Natur und Arbeit - , das sie als Angehörige einer fremden Gattung ausweist; daß ihre Solidarität nicht dir gehört, sondern einem fremden Auftrag. Sei sehen nur so aus wie Menschen. In Wirklichkeit sind es Aliens« (Spehr 1999, 11).

Der fremde Auftrag, dem die »Aliens« folgen sind die kybernetischen Regeln des Wertkreislaufes, dessen sich die Herrschenden bedienen. Sie sind unter uns, und der Graben, der »sie« von »uns« trennt, ist schmal. Wieviele kleine Betriebe, Selbständige, Alternativklitschen, »Selbstangestellte«, kleine Manager gibt es? Wahrscheinlich Hunderttausende. Sie alle wirken direkt als kleine Exekutoren in der »schönen Maschine« mit. Und was ist mit den abhängig Beschäftigten, die in tollen hierarchiearmen Betrieben unmittelbar mit dem Marktdruck konfrontiert sind und ihre »eigene Verwertung« organisieren müssen? Müssen sie sich nicht auch wie »Aliens« verhalten?

Eine Bewegung, die Emanzipation aller Menschen will, kann nicht gleichzeitig repressiv gegenüber anderen Individuen sein. Hier müssen wir klar unterscheiden: Nicht die Menschen sind die »Feinde«. Genau das ist das faschistoide Denkmuster, dass uns durch den herrschenden Rassismus nahegelegt wird. Aber es gibt Verhaltensweisen von Menschen, die wir nicht mehr tolerieren, sondern bekämpfen. Wir sprechen dann lieber nicht von »Menschen als Aliens«, sondern von Alien-Verhaltensweisen, die Banker, Konzernchefs oder auch ganz normale Leute zeigen können. Ebenso verhalten sich ganze Institutionen in diesem Sinne - wenn sie den Herrschaftscharakter verschweigen, und meinen, deren Macht zu ihren Gunsten nutzen zu können.

Der »NGO-Stil«: Lobbyarbeit

Ein WWF-Vertreter unterstützt die EXPO mit dem Argument:

»Wo sonst ... , wenn nicht hier, gibt es zu Beginn des neuen Jahrtausends einen besseren Ort, dem grenzüberschreitenden Naturschutz Gehör zu verschaffen?« (Groth 2000)

Aber auch die ablehnende Haltung von R. Exner (2000) vom BUND wird lediglich mit dem Nichterfüllen der ökologischen »Ansprüche« der EXPO begründet und nicht grundsätzlich, die Machtverhältnisse kritisierend.

Auch die Agenda 21, auf die sich die EXPO bezieht, und an der sich viele Nichtregierungsorganisationen (NGO) beteiligen, bestärkt diese Machtverhältnisse noch ausdrücklich. Die Konzerne sollen auf gleiche Ebene wie die Politik gebracht werden. Mit den Bürger/inne/n soll nur eine Art Dialog geführt werden! Das ist ein weltpolitischer Rückschritt hinter die Anfänge des Kapitalismus bezüglich der Souveränität der Bevölkerung. Jetzt wird dieser Anspruch durch verschiedene Mittel, wie das 1999 erst einmal gescheiterte »Multilaterale Investitionsabkommen« vernichtet. Zwar verlieren die »normalen« demokratischen Institutionen immer mehr Legitimation - ihre Ersetzung durch Konzernlobbies wäre jedoch verhängnisvoll. Die NGOs stellen diesen Prozeß nicht grundsätzlich in Frage, sondern versuchen rechtzeitig, auf diese neue Herrschaftsebene mitgenommen zu werden. Sie gehen Bündnisse mit den Herrschenden ein, um für ihre »Sache« Lobbyismus zu betreiben, die sich von den Interessen der »normalen Bürger/inne/n« mehr und mehr ablöst. Die deutschen NGOs wären z.B. am liebsten bei den WTO-Verhandlungen in Seattle dabeigewesen und verschwiegen, d.h. blockierten die Proteste. Es entstehen neue elitäre Gremien, für die es nicht einmal die Mindestregeln demokratischer Einflußnahme gibt. Die NGOs haben selbst keine aktive Basis mehr, sondern sind darauf angewiesen, Menschen zu instrumentalisieren. Sie zeigen schon zahlreiche Verhaltensweisen der »Aliens«.

Deutlich wurde dies auch beim Widerstand gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1999 in Köln. Durch die Vertreter der NGOs wurden zentralistische Aktionen mit recht schwachem Ergebnis durchgesetzt. Nichtsdestotrotz wurde dies als »Erfolg« gefeiert. Die Teilnehmer an den Demos wurden instrumentalisiert. Ihre Kritik an den »Latschdemos« wurde schließlich auch öffentlich diffamiert und autonome Gegenkonzepte bekämpft und diskreditiert. Typisch für dieses Vorgehen ist der Verzicht auf den Kampf gegen die Herrschaft selbst und die Instrumentalisierung von Menschen für eigene Zwecke, um sich auf Kosten anderer durchzusetzen.

3.2. Kritik und Gegenbild

Gegen die »Globalisierung« hilft weder eine kleinere oder größere Umverteilung von oben nach unten (auch wenn das erst mal einige Not unten lindern könnte) und auch keine Verschiebung der Kosten der In-Wert-Setzung von Natur und Vergeudung menschlicher Arbeit in andere Regionen, sondern nur ein Bruch mit der Herrschaft der kapitalistischen Ökonomie über das Leben. Der Ausweg besteht nicht etwa darin, aus mehr Menschen auf der Welt Lohnarbeiter/innen zu machen (nachdem ihnen die Selbstversorgungsmöglichkeiten entzogen wurden), und auch nicht darin, für uns selber wieder 40-Wochenstunden-Jobs am Fließband zu verlangen, sondern in der Abschaffung der Lohnarbeit. Nicht der Kauf von noch mehr Naturarealen durch Alien-Vertreter zur angeblichen »nachhaltigen« Nutzung ist angesagt, sondern die Wiederaneignung von Ressourcen, Lebens- und Produktionsmitteln durch die Menschen selbst.

Die spannendste Frage kommt aber erst dann: Wie soll die Produktion des Lebensnotwendigen und mehr denn ohne Organisation der »unsichtbaren ordnenden Hand« des Marktes überhaupt funktionieren? Im realen Sozialismus ist doch genau dieser Versuch gescheitert?!

»Stellt Euch vor, es gibt (Lohn-)Arbeit und keiner geht hin!« (nach A. Narcho, 1993)

Wie immer ist keine exakte Voraussage der Zukunft möglich. Eine Voraussicht auf Möglichkeiten dagegen, die wir ergreifen - oder verpassen können, aber gibt es.

Die Arbeitsproduktivität hat ein Maß erreicht, bei der es einfach Verschwendung von Lebenszeit ist, 40 Stunden in der Woche zu arbeiten. Die Grundversorgung und sogar die Erzeugung der Güter zur Befriedigung weiter wachsender Bedürfnisse ist möglich, ohne dass alle Menschen ständig arbeiten oder nur wenige von der Arbeit befreit werden.

»In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht von Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden...« (Marx 1983/1857, 600)

Das »Problem« der technologischen Arbeitslosigkeit ist nur unter Bedingungen der Wert-Vergesellschaftung eine individuelle Katastrophe, unter anderen Bedingungen wäre es die endliche Befreiung von Mühsal und Plage und Früh-Aufstehn und modernem Streß. Es wurde mit Zahlen von 1988 nachgewiesen, dass wir mit dem gleichen Luxus und Lebensstandard wie 1989 nur 5 Stunden Arbeit pro Woche leisten brauchen (Dante 1992).

»Der Diebstahl an fremder Lebenszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört auf und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts.

Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift.« (Marx 1983/1857, 601)

Was Marx hier beschreibt, ist kein Automatismus. Er nennt nur die Möglichkeiten, die über 100 Jahre nach ihm endgültig gegeben sind. Gerade damit diese Möglichkeiten genutzt werden, ist ein revolutionärer Umbruch in der Gesellschaft notwendig. Während die Forderung nach »Arbeit für alle« aus dieser Sicht eher konservativ ist, versuchen reformerische Ansätze wie die Forderung nach Existenzgeld und »New Work« wenigstens das Beste aus dieser Situation zu machen. Sie sind auch berechtigt, insoweit sie das Bewußtsein der Menschen für diese neue historische Situation öffnen und sich zutrauen, diese Befreiung von dem Arbeitszwang als etwas Gutes zu empfinden. Sie werden aber fragwürdig, wenn sie die kapitalitistische Wirtschaftsform als Grundlage beibehalten wollen oder »zur Finanzierung« gar benutzen müssen.

Wenn es aber keinen Druck mehr gibt, hart zu arbeiten (oder so zu tun, als wünsche man sich nichts sehnlicher), woher soll dann das Brot, das Haus, die Kleidung kommen? Legen sich dann alle Menschen faul in die Hängematte? Dies entspräche einem sehr pessimistischen Menschenbild, das historisch jedoch vielfach widerlegt wurde. Unter den jetzigen Bedingungen ist die Faulheit geradezu eine notwendige Folge von Zwang und Streß. Unter anderen Bedingungen zeigen sich andere Möglichkeiten: Spaß an Kreativität und aktivem Tun (das den Kindern derzeit leider frühzeitig und mühsam abgewöhnt wird) werden wieder hervorquellen. Man kann sich das sogar schon genauer vorstellen:

»Zur Bedarfserhebung in frei gebildeten organisatorischen Einheiten in diesem Sinne benötigt jedes Individuum bzw. jede kleine Gruppe von Individuen einen Computer. Weiters erscheint eine Vernetzung dieser Computer über LANs (Local Area Network, direkte Vernetzung von Computern in einem Gebäude oder einem kleinen Bereich über ein Kabel) oder MANs (Metropolitan Area Network, Vernetzung von Städten über Glasfaserkabel, Reichweiten bis zu 50 km) oder über das Internet als sinnvoll. Die Art des Netzwerkes hängt von der Größe der organisatorischen Einheit ab. An jedem Computer läuft dann ein Programm, mit Hilfe dessen der individuelle Bedarf an Produkten eingegeben werden kann. Über das Netzwerk wird dieser Bedarf weitergeleitet und so kann durch einfache Summierung der Einzelbedarfe der Gesamtbedarf ermittelt werden, der an die jeweiligen selbstverwalteten Produktionsstätten weitergeleitet wird. Dies ermöglicht eine bedarfsorientierte Produktion« (Fuchs 2000, 175f.)

Auffallend ist, dass diese neue Vergesellschaftung - auch wenn sie moderne Technik als Grundlage nutzt - tatsächlich intersubjektive Beziehungen voraussetzt und selbst wieder erzeugt. Es entstehen neue Regeln, die an der Selbstentfaltung des Menschen und nicht an der Selbstverwertung des Werts orientiert sind.

Ein Beispiel: Freie Softwareentwicklung

Die freie Softwareentwicklung ist eine Keimform personal-konkreter Produktivkraftentwicklung im Meer der dominanten wertvermittelten gesellschaftlichen Reproduktion. Als Beispiel sei kurz die »Linux-Story« geschildert (ausführlich in Meretz, 1999b). Linux ist ein freies, extrem leistungsfähiges Computerbetriebssystem, das komplett ohne Verwertungsinteresse in weltweiter Kooperation einiger tausend Menschen »aus eigenem Antrieb« entwickelt wurde (und wird). Eine spezielle Lizenz [7] garantiert die freie, öffentliche Verfügbarkeit und schließt eine Privatisierung und damit Integration in den Verwertungszyklus aus. Damit wurde ein Sonderraum geschaffen, in dem sich Menschen zusammenfanden, die aus Spaß an der eigenen Entfaltung Software schufen, die jede/r nutzen kann. Software gilt als besonders verdichtete Form gesellschaftlichen Wissens, und es schien ausgemacht, dass ihre Herstellung strikter hierarchischer Organisationsformen bedarf, wie sie in kommerziellen Softwarefirmen existieren. Die Praxis bewies das Gegenteil. In den verwertungsfreien Sonderräumen schufen sich die Entwickler/innen völlig neue Organisationsformen, die auf Vertrauen und anerkannter Leistung basieren. Das Prinzip ist denkbar logisch und einfach: Was funktioniert, das funktioniert. Jede/r kann ein neues Projekt gründen und um Mitstreiter/innen werben. Erkennen die Mitstreiter/innen den/die Projektkoordinator/in (Maintainer/in) an, so werden sie ihn/sie unterstützen und Beiträge zum Projekterfolg leisten - und wenn nicht, dann eben nicht. Der/die Maintainer/in wiederum hat ein unmittelbares Interesse, die Projektmitglieder ernst zu nehmen, ihre Beiträge zu würdigen und als gute/r Moderator/in zu fungieren. Es gibt keinen abstrakten übergeordneten Mechanismus, der die Ziele der Projekte bestimmt. Die Ziele setzen sich die Projekte selbst, sie richten sich nach den Wünschen der Mitglieder, nach den Bedürfnissen nach Selbstentfaltung, Anerkennung und Spaß: »We just had a good time«. Diese personalen, konkreten Vermittlungsformen sind die Voraussetzung für den Erfolg freier Software, sie stellen die abstrakt-wertvermittelten Formen geradezu auf den Kopf - oder vom Kopf auf die Füße, wenn man in Rechnung stellt, dass man sich schlicht den Umweg über die Wertabstraktion »spart«. Die Resultate dieser Keimformen neuer Produktivkraftentwicklung »am Rande der Gesellschaft« sind bemerkenswert: anerkannt überlegene Produktqualität und schier unendliche gegenseitige Hilfsbereitschaft in der freien Software-Community. Noch vor zwei Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass ein verwertungsfreies Produkt [8], geschaffen von freien Entwicker/innen, nur über das Internet miteinander verbunden, zur ernsten Bedrohung des weltgrößten Softwarekonzerns (Microsoft) werden sollte.

Dieses Beispiel zeigt, dass bereits heute Ansätze entstehen, dennoch wird es kein gemütliches »Hinüberrutschen« in eine neue Lebens- und Wirtschaftsweise geben. Ohne Kampf kein Mampf! Es geht um:

  • Sicherung der Grundsicherung über eine Nutzungsberechtigung der jeweils notwendigen Lebensgrundlagen und Produktionsmittel (Wiederaneignung der Ressourcen, Allmende etc. und »Expropriation der Expropriateure« (Marx)).
  • Abbau ökonomischer u.a. Zwänge, die sich nicht aus menschlichen Bedürfnissen ergeben (Rüstung, Rendite/Profit/Gewinn, Verschwendungsproduktion- z.B. eingebauter Verschleiß etc.,...)
  • gemeinsame Nutzung vieler Güter statt Privatbesitz (Wohnformen, Mobilität etc.)
  • Entwicklung alternative Ökonomieformen, die die Abschaffung der Zwangsstrukturen einschließt, denen sie bisher aufgrund der Wert-Vergesellschaftung unterworfen sind (konkrete Vorschläge in Bergstedt 1999a).
  • Entwicklung dezentraler Politik- und direkter Demokratieformen.

Wie aber soll das konkret aussehen, was kann ich tun? Diese Frage ist deswegen schwer zu beantworten, weil es ja gerade die Eigenschaft selbstorganisierender Prozesse ist, dass sie keine übergeordnete Handlungsleitlinie brauchen, um zu funktionieren. Dem Wert sagt auch keiner, was »er« zu tun hat. Nun ist der verselbstständigte Wert eine analytische Denkfigur von Marx, dennoch erfüllt sich die »Fetischfunktion« des Werts in der Praxis ohne das die Menschen genau das bewußt wollen - die Wertabstraktion bestimmt ganz einfach ihren subjektiven Möglichkeitsraum. Ein neuer Modus kann nur bewußt gegen das subjektlose Wirken des Werts durchgesetzt werden. Eine Möglichkeit ist der komplette oder teilweise Ausstieg aus Verwertungszusammenhängen und die Etablierung neuer Regeln des Austauschs. Es geht um die

»...Entkoppelung eines sozialen Raums emanzipatorischer Kooperation von Warentausch, Geldbeziehung und abstrakter Leistungsverrechnung.« (Kurz, 1997).

Die freie Software-Community zeigt wie es geht: Sie ist aus den Verwertungszyklen ausgestiegen und hat in einem selbstgeschaffenen Sonderraum nach eigenen Regeln das (virtuelle) Zusammenleben [9] und Entwickeln von Software organisiert. Nur so war es ihnen überhaupt möglich, ihren Wunsch nach besserer und freier Software umzusetzen. Es ist nicht verwunderlich, dass diese ersten Keimformen im Softwarebereich entstanden sind. Die notwendigen Produktionsmittel, Computer und das Internet, sind zu mäßigen Kosten oder gänzlich frei (an Universitäten) verfügbar. Software hat zudem den Vorteil, nicht an eine besondere Materialität gebunden zu sein. Identische Kopien entwickelter Software können zu sehr geringen Transaktionskosten verteilt werden. Softwareentwickler/innen können außerdem mit begrenztem Einsatz aufgrund hoher Löhne ihr Leben in den klassischen Verwertungzusammenhängen reproduzieren. Hier waren also die Hürden vor dem Ausstieg aus dem Verwertungszyklus relativ gering, dennoch war und ist es auch hier immer eine Entscheidung, sich (verwertungs-) freie Zeit zu schaffen, um an verwertungsfreier Entwicklung teilhaben zu können.

3.3. Der Weg zum Neuen

Es reicht nicht aus, die Herrschaft hinwegzufegen - etwas Neues, noch dazu Besseres, setzt sich nicht automatisch an dessen Stelle; eher andere, vielleicht noch brutalere Formen der Herrschaft. Nein, parallel zum Kampf gegen die Herrschaft muß das angestrebte Neue im Verhalten der Menschen, ihrem gesellschaftlichem Zusammenwirken mitentwickelt werden.

Selbstorganisation

Selbstorganisation bedeutet eine Ausweitung individueller Wirkmöglichkeiten auf Basis kollektiver Prozesse, die die individuell mögliche Reichweite weit übersteigt. Die Selbstentfaltung des Einzelnen im kollektiven Rahmen ist die Voraussetzung für selbsttragende, selbstorganisierte Prozesse. Ein »zentraler Ordner«, eine zentrale Instanz, die über den lokalen Einheiten stehend die selbstorganisierten Prozesse steuert oder organisiert, ist nicht erforderlich, ja geradezu kontraproduktiv. Historisch war die persönliche Herrschaft in den agrarischen Gesellschaften solch eine zentrale Ordnungsform, doch sie konnte nicht überdauern. Die sachliche Herrschaft des »Werts« im Kapitalismus ist hier schon ganz anders beschaffen. Sie funktioniert dezentral und stellt sich in millionenfachen Tauschhandlungen hinter dem Rücken der Menschen immer wieder her. Der »Wert« hat damit auf raffinierte Weise eine solche Ordnungsfunktion.

Wir suchen jedoch nach neuen Formen der Entfaltung und Bewegung, die weder personal-strukturierte noch wertbezogene Herrschaftsformen ausbildet. Das ist nicht einfach, haben wir doch alle schon die Erfahrung gemacht, wie schnell sich in Bewegungen informelle Machtstrukturen bilden, die ihre eigenen Versorgungsansprüche durch persönliche Profilierung sichern wollen. Die GRÜNEN sind nur schillernstes Negativbeispiel, auch in NGOs und vielen anderen Bewegungen können wir diese Tendenzen beobachten.

Wie können wir uns entfalten, organisieren und koordinieren, ohne wieder Herrschaftsformen auszubilden? Selbstorganisation beruht vor allem auf der Kraft der von den Einzelnen ausgehenden Aktivitäten - allerdings braucht sie dazu geeignete Rahmen- und Randbedingungen. Das bedeutet: keine Vorschriften für konkretes Tun, aber Kriterien für das individuelle Handeln und Vernetzungen. Sie geben Orientierungen an, wofür und mit welchen Mittel wir wogegen agieren.

Für uns ergeben sich diese Kriterien aus unseren bisherigen Erfahrungen und - ganz allgemein - aus den Erfordernissen des oben (Kap. 2) geschilderten Übergang von der »Epoche der Mittel« zur »Epoche der Menschen«:

  • Trennung von Selbstentfaltung und Verwertung: Die Selbstentfaltung und die Vertretung der eigenen Interessen in selbstorganisierten Bewegungen ist von der Erhaltung der individuellen Existenz durch notwendige Beteiligung an Verwertungsprozessen - ob als lohnförmige oder selbstangestellte Arbeit - zu trennen.
  • Intersubjektive statt instrumentelle Beziehungen: Selbstentfaltung durch Herabsetzung Anderer zum bloßen Instrument der eigenen Interessendurchsetzung ist ausgeschlossen. Stattdessen geht es um die Entwicklung intersubjektiver kooperativer Beziehungen auf allen Ebenen und zum Vorteil aller.

Bisher wurden oft gut gemeinte »Utopien« entwickelt, dem die Menschen dann »vernünftig« zu folgen hätten. Heute weigern wir uns sogar, solche festen utopischen Bilder zu entwickeln. Zwar wird uns immer wieder gesagt: »Wir könnten uns erst an der Beseitigung des Vorhandenen beteiligen, wenn wir wüßten, was danach kommt.« Die Antwort kann nicht sein, das »Danach« in den schönsten, überzeugendsten Bildern auszumalen, sondern Bedingungen zu schaffen, unter denen alle Menschen selbst ihre Zukunft in selbstgewählten Kooperationsbeziehungen gestalten können, wie sie wollen.

Gegen die bisherige Unterordnung unter herrschaftliche Vorgaben in Form des Wert-Verwertungszwanges im Namen der »Rentabilität« oder ähnlichem und gegen die Instrumentalisierung von Menschen zu angeblich guten Zwecken, ist die Eigenaktivität der verschiedenen Menschen Träger der Bewegungen und Umwälzungen. Das entspricht auch den vorher allgemein beschriebenen Tendenzen hin zu einer »Epoche der Menschen« (Kap. 1.3).

Intersubjektivität statt Instrumentalisierung

Menschliches Dasein ist immer gesellschaftliches Dasein. Auch ein isolierter, einsamer Mensch ist qua Natur ein gesellschaftlicher Mensch, denn Isoliertheit bedeutet ja gerade das relative Ausgeschlossensein aus gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die gesellschaftliche Natur kommt dem Menschen genetisch zu, und diese Potenz muss der Mensch entfalten, will er sein Leben reproduzieren. Ein ungesellschaftliches Reproduzieren menschlichen Lebens ist nicht möglich. Doch wie funktioniert die Schaffung und Erhaltung menschlichen Lebens auf gesellschaftliche Weise?

Der Mensch produziert und reproduziert sein Leben vermittels der gesellschaftlichen Möglichkeiten, oder anders formuliert: Die individuelle Existenz des Menschen ist gesamtgesellschaftlich vermittelt (vgl. Holzkamp 1985, 192). Das Begreifen der Vergesellschaftung, wie wir sie in Kap. 2 für die verschiedenen Epochen dargestellt haben, als Vermittlung zwischen Individuen und Gesellschaft schließt zwei immer wieder anzutreffende Vereinseitigungen aus: Weder verfügt der Mensch unmittelbar über alle Bedingungen seines Lebens und kann sie direkt bestimmen, noch wird er vollständig von den Bedingungen bestimmt und gesteuert. Dennoch finden sich diese Auffassungen sehr häufig auch unter kritischen Menschen. Die eine zeigt sich als personalisierende Sichtweise auf Beziehungen, etwa so, als ob man alle Dinge in der Kleingruppe schon regeln könne; die andere zeigt sich als deterministischer Bedingungsfatalismus, etwa so, als ob alle Menschen gleich Spielpuppen durch eine unsichtbare Hand geführt werden und man daher nichts machen könne. Beide spiegeln zwar Realität wider, jedoch in einer verqueren Weise.

In der deterministischen Sicht zeigt sich die reale subjektlose selbstlaufende Verwertungsmaschine, in der sich die Menschen gleich Rädchen im Getriebe als den Bedingungen vollständig unterworfen empfinden. Die personalisierende Sicht ist die andere Seite der gleichen Medaillie: Da den Menschen die Verfügung über ihre Bedingungen entzogen ist, scheinen alle beeinflussbaren Umstände ausschließlich im nahen persönlichen Bereich zu liegen. Das Schwanken zwischen Ohnmachts- und Ausgeliefertheitsgefühlen auf der einen und Aggression im persönlichen Umfeld als Resultat der Personalisierung von Konflikten auf der anderen Seite hängen eng zusammen.

Aus der Vermittlungsbeziehung des Menschen zur gesellschaftlichen Realität folgt jedoch zwingend: Menschliches Handeln ist nicht »bedingungsgetrieben«, sondern »möglichkeitsoffen«. Die gesellschaftlichen Bedingungen stellen niemals bloße Determinanten des Handelns dar, sondern bilden einen Möglichkeitsraum, in dem wir uns bewegen. Sonst wäre, nebenbei bemerkt, jede Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse prinzipiell ausgeschlossen - und das ist nicht so, wie wir aus der Geschichte wissen. In welcher Weise die grundsätzlich vorhandenen Möglichkeiten individuell genutzt werden, ist jedoch keineswegs festgelegt. Es ist eben auch eine menschliche Möglichkeit, sich als bedingungsgetrieben zu erleben und danach in selbstbeschränkender Weise zu handeln. Aber hier kommt es uns auf die zweite Alternative an, die wir stark machen wollen, und das ist die Alternative der Erweiterung der individuellen Handlungsfähigkeit in verallgemeinerter, für alle nützlichen Form. Um diese Alternative deutlich herauszuarbeiten, kontrastieren wir die beiden Formen menschlicher Beziehungen, um die es uns hier geht.

Die einschränkende und selbst beschränkende Beziehungsform ist die der Instrumentalbeziehungen. Ich mache andere Menschen zum Instrument meiner Ziele, Interessen und Bedürfnisse, die ich auf ihre Kosten durchsetze. Diese Form ist nicht nur für andere einschränkend, sondern auch für mich selbst beschränkend, weil die anderen Menschen in reziproker Weise genauso mich zum Instrument ihrer Interessenerreichung machen, wie ich umgekehrt sie. Es ist leicht vorstellbar, dass ich mein Bestreben, die anderen zu instrumentalisieren, nur durchsetzen kann, wenn ich stets etwas »besser« bin als diese. Doch da die anderen in der Abstiegsspirale der Zersetzung menschlicher Beziehungen ebenfalls reagieren, schlagen meine »Anstrengungen« wieder auf mich zurück, oder anders formuliert: Ich werde mir selbst zum Feinde! Diese Handlungsweise darf jedoch keinesfalls zum individuellen Defekt erklärt werden, der einem selbst »nicht passieren könne«: Instrumentelle Beziehungen sind die in der kapitalistischen Gesellschaft nahegelegte Beziehungsform, da sie den Konkurrenzkampf innerhalb der ökonomischen Wertmaschine widerspiegelt. Der Kapitalismus kennt nur instrumentelle Beziehungen und die dazugehörigen Partialinteressen und kann auch nur solche hervorbringen. Der Kampf der einen Partialinteressen gegen die anderen wird dann »Demokratie« genannt.

Die Alternative von Beziehungen, die auf allgemeinen Interessen beruhen, kann der Kapitalismus nicht hervorbringen: Er kennt keine allgemeinen Interessen. Subjektbeziehungen, wie wir die Alternative nennen (Holzkamp 1985, 370), basieren auf verallgemeinerbaren Interessen. Verallgemeinerbare Interessen sind solche, die nicht auf Kosten anderer, sondern nur im Interesse aller erreicht werden können. Subjektbeziehungen müssen aktiv gegen die nahegelegten Tendenzen zur Instrumentalisierung durchgesetzt werden - und das ist nicht einfach. Auch wohlmeinende Worte wie »Freiheit « und »Emanzipation« schützen vor Instrumentalisierung nicht:

»Die meisten von uns haben gelernt..., daß Emanzipation die Freiheit bedeute, den Anderen und die dingliche Welt auf deren Nützlichkeit für die Befriedigung der eigenen Interessen zu reduzieren« (Baumann 1992, 247)

Es gäbe kaum Hoffnung, wenn die Instrumentalisierung tatsächlich dem »natürlichen menschlichen Wesen« entspräche. Zur radikalen Veränderung der Gesellschaft, wie wir sie anstreben, gehört unbedingt eine Entfaltung der Subjektivität des Einzelnen, die die Enfaltung der Subjektivität der anderen notwendig mit einschließt. Subjektbeziehungen sind in allgemeinen Interessen gegründet:

»Subjektbeziehungen sind Beziehungen zwischen Menschen, in denen das gemeinsame Ziel der Beteiligten prinzipiell mit allgemeinen gesellschaftlichen Zielen zusammenfällt« (Rudolph 1996, 45).

Allgemeine Ziele sind dabei weniger inhaltlich bestimmt, sondern dadurch, »daß sie sich nicht gegen die Interessen bestimmter Personen oder Gruppen richten können« (Holzkamp 1980, 210). Dabei muß sich der Einzelne keinem Ganzen unterordnen, sondern sein ganz individuelles Sein - wie das der anderen - schafft die Gesellschaft. Wenn er sich - was ansonsten »egoistisch« genannt wird - ganz für sich und seine Interessen einsetzt, setzt er genau damit das Stückchen Gesellschaftlichkeit in die Welt, das seiner Individualität entspricht. Die individuelle Subjektivität ist die

»...Gewinnung der bewußten Bestimmung der eigenen Lebensumstände in gleichzeitiger Überschreitung der Individualität, da durch Zusammenschluß mit anderen unter den gleichen Zielen die Möglichkeiten der Einflußnahme auf die eigenen Lebensbedingungen sich potenzieren« (Rudolph 1996, 45).

Subjektbeziehungen und Instrumentalbeziehungen können wir dementsprechend wie folgt skizzieren (Rudolph 1996, 46):

Subjektbeziehungen Instrumentalbeziehungen

Die gemeinsamen Ziele der Einzelnen fallen prinzipiell mit allgemein gesellschaftlichen Zielen zusammen.

Es handelt sich um Beziehungen ohne Unterdrückung...

Das Interesse an der Subjektentwicklung des anderen Beteiligten ist das Interesse eines jeden.

Daraus entsteht ein begründbares, wechselseitiges Vertrauen...

Angstlosigkeit, Freiheit, Offenheit und Eindeutigkeit in der gegenseitigen Zuwendung.

Ein Zusammenschluß von Gleichgesinnten findet statt unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzbarkeit zufällig gleicher individueller Ziele gegenüber nicht Gleichgesinnten (oder gesellschaftlicher Partialinteressen gegeneinander)

Sie werden hergestellt und zusammengehalten über die Vorteile, die die Beziehung dem Einzelnen oder allen Beteiligten gegenüber anderen bringt

Sie werden reguliert durch Zwang, Abhängigkeit, Druck, Unterdrückung.

Die konkrete Utopie intersubjektiver Beziehungen beschreibt Iris Rudolph so:

»Ich möchte eine Welt, in der die Menschen sich nicht gegenseitig benötigen, in der sie einfach durch das, was sie tun und alles lassen, für sich tun und lassen, gleichzeitig auch das Beste für alle anderen tun« (Rudolph 1998, 78).

Es ist einsichtig, dass sich das Ziel der Erringung der »Epoche der Menschen« auf Grundlage intersubjektiver Beziehungen niemals auf dem Wege instrumenteller Ausnutzung erreicht werden kann. Kein noch so »positives Ziel« rechtfertigt die Durchsetzung individueller Interessen auf Kosten anderer. Ein Ziel, dass auf Kosten anderer erreicht oder angestrebt wird, ist kein allgemeines, sondern in Partialinteressen begründet, und die Durchsetzung von Partialinteressen ist immer mit Instrumentalbeziehungen verbunden. Die Übereinstimmung von Weg und Ziel ist damit keine moralische Forderung, sondern eine immanent logische! Verstoße ich dagegen, ist das kein Grund für ein schlechtes Gewissen oder moralische Verdammnis, sondern ein Anlaß, die Gründe für das Durchschlagen partieller Interessendurchsetzung auf Kosten anderer anzusprechen. Dabei ist der selbstschädigende Charakter solcher Handlungen offenzulegen. Dass hierbei Angstlosigkeit, Freiheit und Offenheit eine Voraussetzung für die Klärung von Konflikten bilden, ist deutlich. Es wird klar: Subjektbeziehungen kann man nicht erzwingen, sie sind dennoch unhintergehbar die Voraussetzung auf dem Weg in eine herrschaftsfreie Gesellschaft.

Grundsätzlich können wir kaum vorschreiben, wie diese neue Gesellschaft ihre Kooperation zu organisieren hat. Eins jedoch muß gewährleistet sein: die Einzelnen müssen die Möglichkeit haben, wählen und neu schaffen zu können. Sie müssen aus dem jeweils Gegebenen auch »herausgehen« können. Dies ist die einfachste und grundlegendste Voraussetzung für Freiheit:

»Nur das macht freie Kooperation aus: daß man sie aufkündigen oder einschränken kann, um Einfluß auf ihre Regeln zu nehmen...« (Spehr 1999, 236).

Wenn dies unserem grundlegenden Ziel entspricht, entsteht eine Übereinstimmung mit den Wegen, auf denen wir nur dahin gelangen können. Die alte anarchistische Forderung, dass der Weg dem Ziel entsprechen müsse, ist also hochaktuell. Es ist jedoch nicht damit getan, die bisherigen Herrschaftsmittel fortzuräumen. Damit die geschaffenen Freiräume auch wirklich durch die Menschen im emanzipativen Sinne genutzt werden, müssen Erfahrungen von Subjektbeziehungen in den Freiräumen möglich sein. Die zweite Möglichkeit intersubjektiver Beziehungen muss praktisch als real besser, angenehmer, herausfordernder und perspektivreicher erlebt werden - als die alltäglichen Erfahrungen mit instrumentellen Beziehungen, die wir alle immer wieder machen. Auch hier gilt wieder, dass Subjektbeziehungen nicht aufgrund einer neuen »political correctness« den neuen moralischen Anpassungsmaßstab für individuelles Handeln bilden - das wäre absurd, ja geradezu kontraproduktiv: Subjektbeziehungen sind niemals vorstellbar als Resultat einer Anpassung an den »Gruppendruck« oder was auch immer. Subjektbeziehungen sind das Gegenteil der Übernahme des Nahegelegten überhaupt, ob im Verhältnis zur gesellschaftlichen Wertmaschine oder zu meiner Initiative, Gruppe etc. Jede Kritik, die im vorgeblichen Interesse der Gruppenharmonie unterbleibt, ist eine verlorene Chance - für die Gruppe und für mich.

Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln sich permanent, das gilt auch für intersubjektive Beziehungen. Die praktischen Erfahrungen in der Kooperation mit anderen, bei der Aktion, beim Streik, bei der Blockade oder beim Flugblatt schreiben bilden eine wichtige Grundlage. Widerstand ist deshalb auch Subjektwerdung wie sie z.B. Peter Weiss im Jahrhundertroman »Ästhetik des Widerstands« (1983) ausführlich beschreibt. Hier haben auch so begrenzte Formen wie Zukunftswerkstätten, das Konzept »New Work« (nur das tun, was ich »wirklich, wirklich« tun will) oder Tauschringe, die Fixierungen auf Lohnarbeit und Geld aufbrechen, ihren berechtigten Platz. »Soziale Erfindungen« sind unverzichtbar, doch die Inhalte dürfen dahinter nicht zurückbleiben.

Gegen Herrschaft - für neue menschliche, intersubjektive Beziehungen

Der Kampf für neue Verhältnisse erfolgt an zwei Fronten. Einerseits muß gesellschaftlicher Freiraum gegen die Machthaber, und jene, die die »Zukunft zubetonieren«, erstritten werden. Andererseits muß der Freiraum mit wirklich Neuem gefüllt werden können. Das bloße Austauschen der Machthaber kann genauso wenig das Ziel sein wie die Schaffung von Lohnarbeitsplätzen bei der weiteren In-Wert-Setzung von Natur und Mensch.

Natürlich beißt sich dabei die Katze gewissermaßen in ihren eigenen Schwanz. Einerseits brauchen wir neue intersubjektive Beziehungen, um uns selbstorganisiert und erfolgreich gegen die herrschenden Verhältnisse wehren zu können. Andererseits sind auch wir immer noch und immer wieder in den alten instrumentellen Beziehungsformen befangen. Das Problem des gleichzeitigen Änderns der Umstände und der Selbstveränderung der Menschen erkannte schon Marx in seiner 3. These über Feuerbach [10]. Trotzdem zielten die Revolutionen bisher primär darauf ab, die Umstände zu verändern und dann zu hoffen, dass die »neuen Menschen« auf ihrer Grundlage entstehen - oder mit Propaganda, Erziehung und Ideologie »herangezogen« werden. Es bildete sich eine Art Avantgarde heraus, die meinte, im Namen und für jene, die sich noch nicht genügend selbst verändern konnten, die Umstände zu verändern und dann auf den »neuen Menschen« zu hoffen oder ihn zu erziehen. In der Gegenwart ist diese Praxis nicht nur in den real-sozialistischen Ländern gescheitert und theoretisch widerlegt. Nein, ein Blick auf die aktuellen Kultur-, Umwelt-, Friedens- und Trikontbefreiungs- und Frauenbewegungen zeigt an vielen Stellen Stagnation und Abbau. Aber an den Stellen, wo sie nennenswert bleiben, haben sie neue Formen entwickelt. So will die EZLN in Mexiko gar keinen »Sieg neuer Führer«, sondern strebt eine Veränderung der Gesellschaft selbst an. Emanzipation bedeutet heute nicht nur Befreiung von der alten Herrschaft, sondern das Verhindern des Aufbaus neuer Herrschaftsstrukturen in der eigenen Bewegung.

Was das bedeutet, wollen wir für verschiedene Ebenen deutlich machen: das »Binnenverhältnis« in emanzipativen Bewegungen und deren Verhältnis zu den anderen Menschen in der Gesellschaft.

Emanzipative Bewegungen

Es gab und gibt es in der Realität Gruppen von Menschen, die sich organisieren, um gemeinsam weitreichende emanzipative Ziele umzusetzen - auch ohne dass alle Menschen dies bereits tun. Die emanzipativen Gruppen der Gegenwart teilen im wesentlichen die oben für die Gesellschaft gegebene Zielbestimmung. Sie wollen eine Gesellschaft, in der die Menschen wirklich konkret, ohne durch persönliche oder sachliche Herrschaft eingeschränkt, selbstbestimmt handeln können. Dieser Anspruch besteht in der Regel auch für die Binnenverhältnisse in den Gruppen und Vernetzungen. Paslak (1990) hat sich die Dynamik selbstorganisierter Bewegungen angesehen. Er beschreibt folgende typische Entwicklungen:

  • Die konstitutive Kraft informeller bzw. selbstorganisierter Prozesse geht über die Dynamik einzelner Gruppen hinaus und führt zum Aufbau eines komplexen Netzwerkes von Initiativgruppen;
  • Die selbstorganisierten Strukturen werden nicht von »objektiven« Außeneinwirkungen geformt, sondern entstehen aus jeweils inneren eigenen Entscheidungen über die Bewertung von Situationen und Problemen;
  • Die interne Handlungskoordination ist stets labil und flexibel änderbar, und die Fortsetzung der Struktur ist an die gemeinsame Bindung und Weiterentwicklung gemeinsamer Vorstellungen und Ziele gebunden.

Löst sich die Aktivität der »Gruppe« von diesen Zielen, wird sie zum Selbstzweck, und dies ist die akuteste und häufigste Gefahr, der Gruppen und Bewegungen unterliegen. Das kommt leider - aber auch nachvollziehbarerweise - bei vielen Projekten vor, sobald sie sich »etabliert« und »etwas zu verlieren« haben. Auch die »sozialen Erfindungen« können sich mit einer »Spielwiese« innerhalb der gesellschaftlichen Bedingungen zufriedengeben - Zukunftswerkstätten verloren z.B. den politisch-alternativen Anspruch ihres »Erfinders«, Robert Jungk, weitestgehend.

Kippt die innere Dynamik in Richtung auf den bloßen Selbsterhalt als Selbstzweck um, dann ist die Integration in die herrschende Verwertungs- und Geldmaschinerie nur noch ein kleiner Schritt. Schnell gewinnt die Notwendigkeit, den kapitalistischen Geldzyklen einige Tropfen für den Selbsterhalt abzuringen, die Oberhand. Sobald einige Einzelne oder Teile der Bewegung sich so wichtig finden, dass sie vor allem um ihre eigene Existenz kämpfen, entwickeln sich auch untereinander neue Verhältnisse. Es geht dann nicht mehr darum, die anderen Beteiligten als autonome Subjekte zu betrachten, sondern sie werden instrumentalisiert, um nur noch dem vorgeblich »Ganzen« zu dienen. Die Verfolgung individuellen Interessen, die einst Motor der Bewegung waren, wird für den Gelderwerb und Machterhalt anderer eingespannt - die Bewegung wird zersetzt, integriert, bürokratisiert.

Dem Umkippen der Dynamik kann mit klarem Kopf und Bewußtsein der Gefahr begegnet werden. Es gibt niemals unhintergehbare Notwendigkeiten, auch Gruppen unterliegen nicht der Determination durch die Bedingungen: Es handelt sich immer um Entscheidungen. Und Entscheidungen lassen sich so oder anders fällen. Im Ernstfall muß ggf. sogar die Existenz der Gruppe oder z.B. ihr wirtschaftlicher Erfolg in Frage gestellt und gegebenenfalls aufgegeben werden, wenn dies den realen Interessen der Beteiligten zuwiderläuft. Ein Beispiel: In der »Sozialistischen Selbsthilfe Mühlheim« (SSM) entwickelte sich aus der Jugendarbeit ein recht erfolgreicher »alternativer Betrieb«, der Entrümpelungen usw. durchführte. »Arbeit« wurde definiert als »alle Tätigkeiten, deren Ausführung die Gemeinschaft für wichtig hält« (Baumaßnahme am eigenen Haus, Abfassen eines Briefes, Flugblattes, eine politische Aktion, Essen kochen für die Gemeinschaft usw.). Dann entstand ein »richtiger« Baubetrieb - mit Anforderung an »möglichst hohe Leistung in möglichst kurzer Zeit ausgedrückt durch möglichst viel Geld«. Es zeigte sich, dass das nur funktioniert, wenn die eigentlichen Ziele, nämlich die realen Bedürfnisse der Menschen (auch nach streßfreier Arbeit!) aufgegeben werden und der Betrieb normal-kapitalistisch durchgezogen wird. Die SSM verzichtete hier auf den möglichen wirtschaftlichen »Erfolg« und ließ lieber ein »Scheitern« dieser Möglichkeit zu, als den Interessen der Menschen zuwider zu handeln (Kippe 1998, 9f).

Wichtige Kriterien für das Binnenverhältnis emanzipatorischer Bewegungen sind also:

  • Bindung an individuell vertretene Ziele, keine Verselbständigung von sich institutionalisierenden Teilen der Bewegung als Selbst-Zweck,
  • Verhinderung der Instrumentalisierung von Menschen für Zwecke anderer, Schaffung von Strukturen für die Schaffung und Aufrechterhaltung intersubjektiver Beziehungen.

Dazu gehört aber auch der offene Umgang mit Dissens. Das Streben nach Konsens und Harmonie kann dazu führen, dass inhaltliche Positionen unterdrückt werden, die sich diesen »Bauchgefühlen« nicht unterordnen. So entstand auf dem Jugend-Umwelt-Kongreß (Jukß) zum Jahreswechsel 1999/2000 eine Situation, in der die geforderte Unterwerfung unter »Konsens & Harmonie« zu einer Entpolitisierung führte. Die Position »Kein Streit, wir lieben uns doch alle...« führte zur »Machtergreifung von Kreisen, die politisch nichts oder wenig wollen, die aber Umweltbewegung als Familienersatz und Nestwärme wollen« (Bergstedt, 2000b). Demgegenüber fordert Bergstedt:

»Mein Ziel ist, Verhältnisse zu schaffen, die Gleichberechtigung schaffen, bei denen die Menschen aber auch authentisch sein können und nicht in dieser beklemmenden Atmosphäre des »Ich darf niemandem zu nahe treten� agieren. Das ist zu erreichen u.a. durch:
- Dezentralisierung weg vom Plenum
- offene, sich ständig verändernde Strukturen
- Platz für Streit und kreative Prozesse
- Autonomie für Menschen und Gruppen
- Klärung in den Diskussionsrunden, auf was ALLE achten (nicht die Verantwortung einer Moderation abschieben) - somit Einleitung eines Lernprozesses aller« (Bergstedt 2000c)

Spehr (1999) kennzeichnet die gegen die Herrschaft kämpfenden und sich deren Handlungslogik entziehenden Gruppen als »Maquis« (»der Busch«, aus frz. Résistance, auch in verschiedenen StarTrek-Episoden so benannt). Mit ihren oben genannten Eigenschaften, dem Verwerfen von Führung und Avantgardeanspruch und dem Durchsetzen von Emanzipation und freier Kooperation auch in den eigenen Reihen, stellen sie eine völlig neue Qualität dar, was den Beteiligten oft gar nicht so deutlich bewußt ist.

Praktisch ergeben sich aus den Erfahrungen bisheriger alternativer Bewegungen weitergehende Aufgaben (Bergstedt, Hartje, Schmidt 1999):

  • Gewährleistung unabhängiger Strukturen (neue Aktionsstrukturen - politische Gegenstrukturen aufbauen),
  • Aufrechterhaltung der selbstbestimmten Aktionsfähigkeit (Flexibilität, Effizienz, Vernetzung, Kooperation),
  • klare Ziele innerhalb umfassender Konzepte,
  • Schaffen von Kristallisationspunkten.

Da die Menschen und die in Bewegungen Aktiven so unterschiedlich sind wie Menschen überall anders auch, haben sie auch unterschiedliche Fähigkeiten, und auch das Maß des Engagements wird verschieden groß sein. Es ist oft so, dass einige Menschen eine Art »Kraftfeld« um sich herum entwickeln. Sie rücken aufgrund ihres Wissens, ihrer Organisationsfähigkeit, ihres menschlichen Verhaltens ins Zentrum des Geschehens, auch wenn sie dies vielleicht vermeiden wollen. Manchmal ist es jedoch für die anderen einfach bequemer, die »Könner/innen« machen zu lassen. Eine »informelle Elite« kann entstehen.

Eliten »an sich« stellen kein Problem dar. Es ist ja gerade das Ziel der neuen Gesellschaft, dass sich jeder Einzelne maximal entfaltet, dass - wenn man so will - alle zur Elite gehören. Doch wenn alle dazu gehören, ist die »Elite« im bürgerlichen Sinne schon keine mehr. »Eliten« kommen aus den Gesellschaften, in denen die Entfaltungsmöglichkeiten nur für wenige und nur auf Kosten anderer vorhanden sind. Das ist auch das größte Problem für emanzipatorische Bewegungen. Sobald Einzelne ihren Wissensvorsprung und entwickelten Fähigkeiten dazu verwenden, eigene partielle Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen, kippt die individuelle Genialität in Elitarismus um. »Informelle Eliten« bilden sich leicht in Gruppen heraus, in denen der Selbsterhalt der Gruppe zum Selbstzweck geworden ist. Beide Aspekte bedingen einander, denn sie sind Resultat der schrittweisen Integration der Gruppe in die subjektlosen Selbsterhaltungsstrukturen der Wertmaschine. Auch das ist wiederum kein »persönlicher Mangel« der Aktiven, sondern nachvollziehbares Resultat der Tatsache, das die Menschen - auch die Aktiven in Bewegungen - zuerst ihre individuelle Reproduktion absichern müssen. Verschränken sich individuelle Reproduktion und Selbsterhalt der Gruppe, so etwa bei »bezahlten Angestellten« der Bewegung, dann liegen die Interessenkonflikte schnell nahe.

Was kann man hier tun?

  1. Rausgehen aus Verwertungsstrukturen: Wenn wir erkennen, dass die subjektlose Verwertungsmaschine des Kapitalismus unsere Lebensbedingungen zerstört, können wir nicht die politische Arbeit gegen den Kapitalismus auf seinen Verwertungsstrukturen aufbauen. Ein Beispiel: Zunächst sollte der Verkauf politischer Bücher die politische Arbeit finanzieren, dann kamen die Krimis, die viel mehr Geld brachten als die politischen Bücher, nun muss jedes Buch selbst seine Kosten »erwirtschaften«, denn auch die (Selbst-) Angestellten wollten »bezahlt«sein, und die politischen Bücher starben aus. - Andere Beispiele sind Abhängigkeit von Spenden oder gar staatlichen Subventionen, um »den Laden am Laufen« zu halten. Natürlich kostet politische Arbeit auch Geld, und Geld zu nehmen ist nichts Verwerfliches. Doch der Rubikon wird überschritten, wenn die eigene, individuelle Existenz von der Existenz der Gruppe abhängig wird, was bedeutet, den Erhalt der Gruppe im partialen Überlebensinteresse als Selbstzweck zu betreiben. Politische Gruppen müssen ohne existenziellen Schaden ihrer Mitglieder untergehen können, und Mitglieder müssen Gruppen verlassen können, ohne das ihre Existenz infrage steht. Das geht nur in autonomen Strukturen, die nicht nach Verwertungsprinzipien funktionieren. Die freie Softwareentwicklung gibt ein Beispiel.
  2. Individuelle Selbstentfaltung als Grundlage der Bewegung: Das Dominantwerden von partiellen Individualinteressen auf Kosten anderer, das Entstehen »informeller Eliten« kann weder durch bürokratische Verfahren (»Wahlen«) noch moralische Appelle (»Du sollst nicht instrumentalisieren«) verhindert werden. Die einzige funktionierende Grundlage ist die Selbstentfaltung der beteiligten Individuen, die Durchsetzung ihrer allgemeinen Interessen. Das schliesst ein, allen auch die Chance, den Raum, die Möglichkeit zur Selbstentfaltung zu lassen, denn wer weiss schon von vornherein, wie das geht! Das »Möglichkeiten ... lassen« ist jedoch nicht die »Verantwortung« bestimmter Personen - etwa, der »Schlaueren«. Gerade eine solche »Verantwortungshaltung« festigt die personalisierten Strukturen, die sie zu bekämpfen meint: Es gibt niemanden, der das »Recht« hat, anderen »Möglichkeiten zu lassen« - genauso wie niemand das Recht hat »Möglichkeiten zu nehmen«. Das eine schliesst das andere logisch mit ein! Es ist die »Verantwortung« aller und jedes Einzelnen, Strukturen zu schaffen, in denen das Lassen und Nehmen von Möglichkeiten keine Frage mehr ist! Dort, so sich Menschen unbeschränkt entfalten, ist für »Eliten« kein Platz mehr.
  3. Kritik und Reflexion - der Bedingungen, nicht der Personen: Wir schreiben immer wieder gegen die Moralisierung in emanzipativen Bewegungen an. Wie aber sollen sich Subjektbeziehungen durchsetzen, wenn es keine moralischen Leitlinien gibt, an die sich die Menschen halten können? Subjektbeziehungen setzen sich nur dann durch, wenn ich es will. Will ich die Selbstentfaltung, dann geht das nur in intersubjektiven kooperativen Beziehungen. Was aber ist, wenn diese theoretische Erkenntnis sich praktisch nicht durchsetzt? Dann gibt es keine andere Chance, als die Gründe für das Unterlaufen anzusprechen, und die strukturellen Ursachen, die das Unterlaufen nahelegen, aufzudecken. Das geht nur in offener Kritik und Reflexion des eigenen Tuns. Jedes Zurückhalten und Unterlassen von Kritik um der »Harmonie willen« ist kontraproduktiv - jede Unterdrückung erst Recht. Eine unterbliebene Kritik ist eine vertane Chance - für mich und alle. Problematisch ist jedoch personalisierende Kritik. Es geht niemals um »Schuld«, sondern immer um die Gründe für mein Handeln. Es gibt kein unbegründetes Verhalten, sei es auch noch so daneben. Es gibt immer nur das noch-nicht-Kennen der Gründe für das Handeln des anderen. Über das Kennenlernen der Gründe können wir die individuellen Prämissen für das Handeln verstehen, die auf die Bedingungen verweisen. Um diese Bedingungen geht es, ihre Rolle als strukturelle Handlungsvoraussetzung ist aufzudecken. Gerade die Offenheit und Kritikfähigkeit entlastet mich von der Notwendigkeit, die anderen auch zu »mögen«. Dort, wo Gruppen nur noch über Sympathien funktionieren, wo sich verschiedene sympathiegetragene Klüngel bilden, ist etwas faul.
  4. Kollektivierung von Entscheidungen: Die Beteiligung an oder Gründung von Gruppen auf der Grundlage der individuellen Interesse ist die eine Sache. Eine andere ist es, Entscheidungen für das gemeinsame Handeln zu fällen. Nicht immer liegt auf der Hand, ob diese oder jene Entscheidung im allgemeinen oder nur partiellen Interesse liegt. Dennoch muss entschieden werden, will die Gruppe nicht zur einer »Gruppe auf dem Papier« mutieren. Spehr schlägt ein »collective leadership« vor:

»Es reicht nicht, daß alle ihre Interessen formulieren und in ihrer Unterschiedlichkeit einbringen; irgend jemand muß den jeweils nächsten Schritt formulieren, der daraus folgt, und in einer freien Kooperation sollte diese Fähigkeit soweit wie möglich kollektiviert sein« (Spehr 1999, 302).

Kollektivierte Entscheidungsformen kann es viele geben, wichtig ist, dass sie der Lage angemessen und leicht veränderbar sind: Delegationen mit Mandat, Rotationen in Entscheidungspositionen, zeitliche Befristungen für bestimmte Aufgaben etc. Wichtiges Merkmal ist hierbei, dass nicht immer »alle alles« entscheiden, das wäre viel zu uneffektiv, sondern das es ein transparentes Verfahren für gemeinsame Entscheidungen gibt.

Emanzipative Bewegungen in einer »zivilen« Gesellschaft

Herrschaft ist heutzutage nicht mehr offensichtlich, sondern versteckt sich in den scheinbar normalen und natürlichen alltäglichen Lebenszwängen. Diese Wirkungsweise führt dazu, dass es in den kapitalistischen Kernländern auch in Krisensituationen, bei ansteigender Erwerbslosigkeit und sogar Verelendung selten zu spontanen Aktionen oder Befreiungsschlägen kommt. Spehr kennzeichnet die Mehrheit der »normalen Leute« als »Zivilisten«, die

»...einfach vor sich hin (machen), ohne zu überblicken, was vor sich geht« (Spehr 1999, 167).

Sie haben auch »kein Problem damit, daß die Entscheidung von anderen getroffen werden« (ebd., 168). Wer kennt diese Leute nicht und hat sich nicht schon oft über sie geärgert. Das Problem für emanzipative Bewegungen sind neben den Machtzentren jene, die diese Macht nicht hinterfragen, sondern akzeptieren, keine Fragen stellen und die herrschenden Verhältnisse rechtfertigen:

»Sie tun einem gar nicht so viel; sie lassen einen nur an der Welt und ihrer Zukunft zweifeln« (Spehr 1999, 171).

Politische Bewegungen werden deshalb leicht »überheblich« und meinen, »für die anderen« denken und entscheiden zu können. Dann werden sie auch schnell zu Stellvertretern, die nach Gutdünken ihre eigenen partialen Interessen im vorgeblichen »Interesse der Mehrheit« durchsetzen. Aber

»... es gehört zu den Grausamkeiten im Maquis, daß sein Fortschritt sich daran festmacht, ob er in der Lage ist, Zivilisten abzuwerben« (Spehr 1999, 265).

Doch was heißt »abwerben«? Es gibt keinen anderen Grund sich »abwerben« zu lassen, als die individuelle Vorstellung von einem besseren Leben. Warum sonst sollte sonst jemand »in den Busch« gehen, als aufgrund der Vorstellung, dass dort bessere Möglichkeiten der eigenen Entfaltung warten und die Risiken nicht so groß sind wie das Elend des kümmerlichen Lebens in der »zivilen« Gesellschaft. Keiner will missioniert werden, es gibt keine objektive Richtigkeit irgendeiner Vision, es gibt keine Garantie, sondern nur die Möglichkeit eines besseren Lebens im »Maquis«. Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, massenhaft Leute in den »Maquis« abzuwerben und der realen geringen Ausstrahlung des »Maquis« besteht (noch). Das müssen wir aushalten, es gibt dennoch keine Berechtigung andere für ihr Handeln zu geisseln - auch nicht die »Zivilisten«. Sich »abwerben« lassen geht nur auf der Basis eigener Entscheidungen, und das muss jede/r selbst tun. Wer nicht will, will nicht, hat seine Gründe dafür und ist in Ruhe zu lassen. Will ich, das meine Gründe für mein Handeln akzeptiert werden, so muss ich die Begründetheit anderen Handelns auch akzeptieren - ich muss die Gründe ja nicht teilen. Die Autonomie des Handelns gilt nicht nur im Binnenverhältnis, sondern auch gegenüber den »Zivilisten«.

Die »Maquis« können schwer unmittelbar in der Welt der »Zivilisten« überzeugend wirksam werden. Vermittelnd wirken hier punktuelle soziale Bewegungen, in denen sich verschiedene vermischen - Spehr verwendet dafür das Bild eines »Erlenmeyerkolbens«. In und mit diesen Bewegungen sind die gesellschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten größer als im Rahmen der bürgerlichen »Demokratieformen«. Sie setzen Neues in die Welt, sind aber aus der Sicht des »Maquis« begrenzt:

»Eine Friedensbewegung ist zunächst eine Bewegung für Frieden, nicht für Emanzipation« (Spehr 1999, 247).

Das Bild der Unterscheidung zwischen »Maquis« und »Erlenmeyerkolben« kann bei der Orientierung nützlich sein. Wenn sich der »Maquis« isoliert, hat er keine Chance - wenn im »Erlenmeyerkolben« zu wenige »Marquis« sind, verlieren sie ihre potentielle Dynamik. Konsequenter Widerstand und soziale/ökologische Bewegungen werden sich immer in einem Spannungsverhältnis bewegen - aber bewegen müssen sie sich! Zur Orientierung, welche konkreten Konzepte und Aktivitäten diese Bewegung in die Richtung führen, die wir brauchen, können die oben genannten Kriterien dienen: Kein Zurück in die Wert-Vergesellschaftung, kein Streben unser Projekte nach »ökonomischem Erfolg« innerhalb des Systems und Verhinderung instrumenteller Beziehungen untereinander und gegenüber anderen Menschen. Für eine »Politik der Autonomie« (Spehr 1999, 261).

4. Zusammenfassung: Revolution im Fünferschritt

Es ist ein langer Text geworden, und wir haben beim Schreiben viel gelernt. Eine Zusammenfassung fällt uns nach der Fülle der entwickelten Argumente schwer. Aber vielleicht sollten wir die Zusammenfassung eher für eine spekulative Utopie nutzen. Der in Kapitel 1.1 dargestellte Fünfschritt für den typischen Verlauf von revolutionären Umbrüchen bietet sich dazu an.

Der Fünfschritt, der von Klaus Holzkamp formuliert wurde (Holzkamp 1985), ist nichts völlig neues. Manche erinnern sich sicher an den dialektischen »Dreisprung« von These-Antithese-Synthese, der auch hier wieder auftaucht - jedoch wesentlich präzisier und realitätsnäher. Diese allgemeine Form von Entwicklung in Qualitätssprüngen wurde von Holzkamp für die Evolution in der Tier- und Pflanzenwelt nachgewiesen, ebenso für die Prozesse der Menschwerdung. Da Leben grundsätzlich nicht stillsteht, nie stagniert, da alle Materie sich bewegt und in großen oder kleinen Entwicklungsprozessen ihre Geschichte hat, können wir diese fünf Schritte auf jegliche materielle Prozesse beziehen - folglich auch auf die Gesellschaftsgeschichte. Auch dort finden wir größere Zyklen (herrschaftsfreie Gesellschaft - Gesellschaften mit Herrschaft - herrschaftsfreie Gesellschaft), die kleinere einschliessen (Aufstieg und Zerfall jeder einzelnen Gesellschaftsepoche und -ordnung).

Wir wollen hier die fünf Schritte für eine allgemeine möglichst realitätsnahe, aber doch utopische Skizze der möglichen revolutionären Umbrüche verwenden. Skizze heißt: Hellsehen könne auch wir nicht, aber begründet phantasieren schon.

  1. Keimformen: Der erste Schritt besteht im Aufweis der Keimformen des Neuen, die später eine systemsprengende Qualität gewinnen. Voraussetzung ist eine Analyse der bestehenden Verhältnisse, also des alten dominanten Systemzusammenhangs. Das haben wir in den Kapiteln 1 und 2 getan. Wir fanden heraus, dass ökonomisch die entfremdete Produktivkraftentwicklung und gesellschaftlich die Vermittlung aller sozialen Beziehungen über den Wert bestimmend sind. Innerhalb dieser Formen sind die Entwicklungsressourcen für eine weitere Entwicklung des Systems erschöpft, die Produktivkraft der Arbeit zerstört mehr als sie schafft. Die letzte unausgeschöpfte Ressource ist der Mensch, seine Kreativität, seine Potenzen, die in der Entfaltung seiner Individualität liegen. Selbstentfaltung und Verwertung stehen jedoch in einem nicht auflösbaren Widerspruch zueinander. In den realen Ansätzen der Selbstentfaltung liegen die Keimformen des Neuen.
  2. Rahmenbedingungen: Die Erschöpfung von inneren Entwicklungsressourcen von Systemen ist undramatisch, wenn die Rahmenbedingungen des System relativ stabil bleiben. Das ist beim totalitären Kapitalismus nicht der Fall. Erschöpfung und Zerstörung seiner eigenen Reproduktionsbedingungen und damit der Lebensbedingungen der Menschheit gehen einher. Klimakatastrophe, Armut, soziale Verheerungen, Zerstörung natürlicher Grundlagen sind nur wenige Stichworte der globalen Problematik, mit der wir uns konfrontiert sehen. Nur eine radikale Veränderung der Lebens- und Wirtschaftsweise, der Ausstieg aus den alten verwertungsbestimmten Systemzusammenhängen kann die fortschreitende strukturelle Unterminierung unserer Lebensbedingungen aufhalten. Die Rahmenbedingungen dringen auf eine qualitative Überwindung der alten Systemzusammenhänge - eine abstrakte Notwendigkeit oder gar Automatik der Überwindung ergibt sich daraus jedoch nicht. Sie wird nur geschehen, wenn wir es tun. Das Alte geht nicht mehr, aber das Neue kann noch nicht.
  3. Funktionswechsel: Der erste qualitative Sprung erhält noch die alten Systemzusammenhänge, bedeutet aber den Umbruch der Keimformen zu einer bedeutenden Entwicklungsdimension. Noch unter Bedingungen der subjektlosen Wert-Verwertungsmaschine und der entfremdeten Produktivkraftentwicklung bilden sich Zentren neuer Produktions- und Reproduktionsformen heraus. Diese etablieren sich ausserhalb der alten Zusammenhänge, aber unter voller Nutzung der besten materiellen und ideellen Gebrauchswerte, die das alte System hervorgebracht hat. Sie werden in neue soziale und produktive Zusammenhänge gestellt und verwendet - eine High-tech-Aussteiger-Avantgarde nutzt sie aktiv. Im Binnenverhältnis setzen sich intersubjektive Beziehungen als Grundlage eines vernünftigen Austausches der lebensnotwendigen Dinge durch - Qualität, Inhalte und Kommunikation ersetzen die »unsichtbare Hand« der abstrakten Wertvermittlung über den Markt.
  4. Dominanzwechsel: Der Kampf des Alten gegen das Neue ist hart und die Repression beträchtlich, aber die alten Systemzusammenhänge und ehemaligen Verlockungen des Geldes sind nicht mehr wirksam. Wer will sich noch für fremdbestimmtes Verschwenden von Lebensenergie kaufen lassen? Das Neue setzt sich explosionsartig durch, es wird dominant, es entwickelt mit seinen neuen Kommunikations- und Lebensformen eine Strahlkraft, die erstmals wieder Optimismus aufkommen lassen. Der Kapitalismus ist doch kein Naturgesetz, wer hätte das gedacht. Wie umständlich erscheint der Umweg über anonyme Marktbeziehungen, denen man früher die Herrschaft über den sozialen Austausch gewährte, wo man doch alles vernünftig nach Maßstäben der Entfaltung für alle Menschen regeln kann. Wie doof und kleinlich sehen im Rückblick die alten Instrumentalbeziehungen aus, mit denen wir uns gegenseitig traktierten und die herrschenden Strukturen reproduzierten. Mit GNU/Linux fing alles an anders zu werden. Das gibt es zwar nicht mehr, aber die freie Softwarebewegung hatte zum ersten Mal im breiten Maßstab gezeigt, dass es auch ohne die Verwertung von Wert gehen kann.
  5. Umstrukturierung: Es gibt viel aufzuräumen, einige Verheerungen des überwundenen Kapitalismus werden vielleicht nicht mehr reparierbar sein. Aber die kreative Menschheit wird andere Wege finden, die Probleme zu bewältigen. Auf der Grundlage der Dominanz des Neuen wird die Entwicklung nicht aufhören. Die Vielfalt von Lebens- und Wirtschaftsformen wird geradezu aufblühen, vom Alten wird nicht mehr viel übrig bleiben. Wird nun die große Langeweile ausbrechen? Nein, auch dieses Stadium ist auch »nur« wieder Ausgangspunkt für weitere Entwicklungszyklen - aber diesmal auf herrschaftsfreier Grundlage.

Zugegeben, das klingt utopisch, und das ist es auch. Vielleicht wird alles ganz anders ablaufen, in der Regel blamiert sich jede konkrete Utopie nach ein paar Jahren. Aber die Skizze soll zeigen, dass die Geschichte kein Ende kennt, dass es weitergeht, dass es begründete Entwicklungsperspektiven gibt. Praktisch können nur wir bestimmen, was geschieht.

5. Meta-Text

5.1. Versionen-Geschichte

  • Versionen 1.01 bis 1.03: Entwürfe der Autor/inn/en, nicht öffentlich
  • Version 1.04, 23.3.2000: erster öffentlicher Entwurf
  • Version 1.05, 25.5.2000: Fehlerkorrekturen (Hinweise durch open-theory-Diskussion)

5.2. Literatur:

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5.3. Anmerkungen

[1] »Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital.« (Marx 1976/1890, 167f)

[2] Der Kreislauf, der aus Geld Kapital, daraus Wert und Mehrwert und daraus mehr Kapital macht, nennt man »Akkumulation« (Anhäufung). Marx verweist darauf, das der Beginn Spirale nicht in der besonderen Sparsamkeit der Ur-Kapitalisten und der Faulheit der Ur-Arbeiter gelegen habe, sondern dass die ungleichen Ausgangsverhältnisse des Kapitalismus durch Gewalt, Raub, Plünderung und Mord hergestellt wurden - deswegen das »sogenannte«.

[3] Eine Idealisierung dieser »persönlichen Verhältnisse« ist jedoch völlig unangebracht, denn es handelte sich um personale Zwangsverhältnisse wie Sklavenbesitz, Leibeigenschaft, patriachale Familienstrukturen etc.

[4] »Die ökonomische Charaktermaske des Kapitalisten hängt nur dadurch an einem Menschen fest, daß sein Geld fortwährend als Kapital funktioniert.« (Marx 1976/1890, 591).

[5] Subsistenzwirtschaft = Selbstversorgungswirtschaft. Lebensmittel werden lokal selbst hergestellt und verbraucht.

[6] Spehr hat sehr anschauliche Bilder und Beschreibungen entwickelt für typische Handlungsweisen von Gruppen in dieser Gesellschaft. Diese Bilder übernehmen wir, jedoch nicht seine teilweise personalisierende Sichtweise, mit der er die typischen Handlungsweisen als persönliche Eigenschaften der Menschen festschreibt - und damit über die Gründe des Handelns hinweggeht.

[7] GNU General Public License (GPL), auch »Copyleft« genannt, vgl. http://www.gnu.org/copyleft/gpl.html.

[8] Die Verwertungsfreiheit bezieht sich nur auf die freien Softwareprodukte selbst. Es ist klar, das der Kapitalismus wie jede verwertbare Sache auch freie Software in die Verwertung einbezieht. Dank der speziellen Lizenz gelingt dies nur mittelbar, etwa über die Übertragung kommerzieller Software auf freie Betriebssysteme, über kommerzielle Projekte unter Benutzung freier Software, über kommerziellen Support etc.

[9] Das Medium, was das »virtuelle Zusammenleben« vermittelt, ist das Internet. Viele Entwickler/innen kennen sich zwar durchaus »persönlich«, aber nicht unbedingt »von Angesicht zu Angesicht«.

[10] »Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.« (Marx 1969/1845, 6).