Stefan Meretz (April 2001: Version 1.0)

Wem gehört das Wissen?
Von der Freien Software zur freien Gesellschaft

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Originalquelle: http://www.kritische-informatik.de/wissenl.htm

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Einleitung

»Die Welt, wie wir sie kennen, ist so eng an den Prozess des Verkaufens und Kaufens gebunden, dass wir uns gar nicht vorstellen können, wie die Menschen ihre Angelegenheiten anders organisieren könnten. Der Markt ist die Macht, die unser ganzes Leben durchdringt« (Rifkin 2000, 9). Ich möchte im folgenden der Frage nachgehen, ob und wie Menschen ihre Angelegenheiten anders organisieren können - jenseits von Markt, Arbeit und Geld. Rifkin, den ich hier zitiert habe, will soweit nicht gehen, denn letztlich gehört auch er zu den Menschen, die sich nicht vorstellen können, wie es ohne Markt gehen kann. Was Rifkin jedoch sehr genau beobachtet, sind die Veränderungen kapitalistischer Ökonomie auf Basis der Entmaterialisierung und Vernetzung der Produktion und der neuen Rolle des Wissens.

Drei Selbstwidersprüche des Kapitalismus

Dass die kapitalistische oder genauer: die warenproduzierende Gesellschaft [1] Widersprüche hervorbringt, ist nichts Neues - mehr noch: der Kapitalismus lebt geradezu davon. Permanent werden nichtwarenförmige Bereiche dem Zyklus der Verwertung von Wert zuzuführen. Was gestern noch Nachbarschaftshilfe war, ist heute vermarktete Dienstleistung. Dieser Prozess spielt sich derzeit bei der Integration von »Wissen« in Verwertungsprozesse ab - das soll das Hauptthema dieses Aufsatzes sein. Ich will begründen, warum die warenproduzierende Gesellschaft mit der Integration der globalen Wissensproduktion in die Verwertung am Ast sägt, auf dem sie sitzt. Ob er dadurch abbricht, ist eine andere Frage.

Nur summarisch voranstellen möchte ich zwei weitere wichtige Selbstwidersprüche, die bei der Diskussion der freien Softwarebewegung eine zentrale Rolle spielen: die Wertproduktion selbst und die Produktivkraftentwicklung. Alle drei Widerspruchsfelder sind eng miteinander verwoben und bedingen sich zum Teil. Wenn ich sie hier getrennt behandle, dann sollen die jeweils besonderen Aspekten herausgehoben werden und nicht im Brei des Alles-hängt-irgendwie-von-allem-ab untergehen.

Der Selbstwiderspruch der Wertproduktion liegt in der Tatsache begründet, dass einerseits Wert nur dort entsteht, wo abstrakte Arbeit vernutzt wird, andererseits aber aufgrund der Konkurrenzsituation der isolierten Privatproduzenten jeder einzelne Produzent danach strebt, diese Arbeit zu minimieren. Dieser Prozess betrifft auch den Wert der Ware Arbeitskraft. Solange die Wertreduktion in der Konkurrenz (über-)kompensiert wird durch die absolute Ausdehnung der Güterproduktion, die Schaffung neuer Produktsphären oder die Integration bislang nichtwertförmiger Bereiche in die Verwertung, stabilisiert sich die Warenproduktion. Sind aber absolute Ausdehnung, Sphärenausweitung oder Bereichsintegration ausgeschöpft, zehrt die Warenproduktion ihre eigene Basis auf. Indizien dieses Prozesses sind Abkopplung ganzer Weltbereiche von produktiver Entwicklung, das Entstehen fiktiver Akkumulationssphären wie sie an den Börsen zu beobachten sind etc. [2]

Der Selbstwiderspruch der Produktivkraftentwicklung basiert auf der Notwendigkeit, die Entfaltung menschlicher Individualität als unausgeschöpfte Ressource zu nutzen, sie aber gleichzeitig dem externen Sachzwang der Verwertungslogik unterzuordnen. Mit Hilfe neuer Management- und Produktionsmethoden soll der individuellen Entfaltung neuer Raum gegeben werden, in dem formale und bürokratische Kommando- und Schutzstrukturen (Linienhierarchien, Vorschriften, Mitbestimmung etc.) »dereguliert« werden. Gleichzeitig wird die Marktkonfrontation als Regulationsmechanismus direkter organisiert. Jede/r Beschäftigte soll freiwillig das machen, was scheinbar unhinterfragbar sachlich geboten erscheint. Durch den Abbau der hierarchischen Instanzen wird die vorher personal getrennte Einnahme des Standpunktes der Verwertungslogik durch das Management etc. und der Gebrauchswertorientierung durch von diesen abhängigen Lohnbeschäftigten verschoben in Richtung auf eine widersprüchliche Vermischung beider Standpunkt in einer Person. Damit werden gleichzeitig die alten vertikalen Konflikte von »oben« gegen »unten« (Kapital gegen Arbeit) horizontalisiert: Jede/r steht jetzt gegen jede/n. Nicht anders verhält es sich in Kleinstbetrieben oder bei den »Selbstangestellten«: Hier brechen sich alle Konflikte in einer Person, hier fokussiert sich der Widerspruch zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung. [3]

Gegen eine häufige angestellte Schlußfolgerung möchte ich mich explizit wenden: Aus der Feststellung einer Selbstwidersprüchlichkeit des Kapitalismus ist nicht der Automatismus einer wie auch immer gearteten »Selbstauflösung« (Zerfall, Aufhebung etc.) des Kapitalismus abzuleiten. Die Eigenlogik gesellschaftlicher Prozesse herauszuarbeiten, bedeutet nicht, dieser auch Determinations-Charakter zuzumessen - weder für den weiteren Verlauf der Entwicklung noch für das Handeln der Individuen. Im Gegenteil: Die Funktionslogik der drei hier diskutierten Widerspruchskreise begrifflich, also theoretisch zu reproduzieren, soll dazu dienen, die individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit zu erhöhen, um auch in gesamtgesellschaftlichen Maßstab eingreifen zu können. Die »Lösung« ist dabei weder apriori vorgegeben, noch können wir umgekehrt nichts aussagen.

Die traditionelle marxistische Vorstellung einer »naturgesetzlichen« Höherentwicklung menschlicher Gesellschaften mit dem Kommunismus als dem Ende der »Vorgeschichte« implizierte, dass diese Gesetzmäßigkeit nur als solche erkannt und die Handlungen daran ausgerichtet werden müssten. Die Arbeiterklasse war darin das »kollektive Subjekt«, dem die »historische Mission« der Umsetzung der »Naturgesetze« zu kam. Verflacht formuliert: Es ging darum, den Automatismus zu erkennen und ihn zu erfüllen.

Eingreifen heute bedeutet demgegenüber, den genuin offenen Charakter der sich überschneidenden Widerspruchskonstellationen zu begreifen, um daran das Handeln abzumessen. Unter diesen Bedingungen ist eine Vorhersage der gesellschaftlichen Entwicklung nicht möglich. Was jedoch möglich ist, ist ein Erkennen aktueller Entwicklungstendenzen als Resultat der je aktuell zu rekonstruierenden historisch-logischen Entwicklung. Dieser rekonstruktive Rückblick erst ermöglicht eine Vorwegahnung der möglichen weiteren Entwicklungsschritte und eine Formulierung von Praxiskriterien für das Handeln. Begrifflich-theoretische Rekonstruktion und Vorwegahnung sind demnach nicht eine einmalige geniale Leistung, sondern permanenter Prozess. [4]

Doch nun zum dritten Selbstwiderspruch der globalen Wissensakkumulation, dem ich mich in den folgenden Abschnitten nähern will.

Algorithmisierung, Digitalisierung, Informatisierung

Jede materielle Güterproduktion kann man hinsichtlich dreier Dimensionen untersuchen: Energie, Prozess und Algorithmus [5]. Dass für produktive Prozesse Energie erforderlich ist, muss nicht weiter erläutert werden. Mit der Verfügbarkeit der Dampfmaschine und später der Elektroenergie war diese Frage historisch »vom Tisch« - wenngleich sie als ökologische Frage ungelöst in Hintergrund schwelt. Auch von der Prozessdimension, also der Stoffumwandlung in der Produktion, gehen heute keine gesellschaftlichen Umbrüche aus - anders als im Übergang von der natural-handwerklichen zur industriellen Produktionsweise. Lag vor der kapitalistischen Produktionsweise alle Umwandlungstechnik wörtlich in den Händen des »Werkers«, so wurde diese Technik dem Handwerker entrissen und als technischer Prozess in der Maschine vergegenständlicht. Marx erkannte, dass es »...die Werkzeugmaschine ist ..., wovon die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert ausgeht.« (Marx ... 393). [6]

Die Bedeutung der dritten, algorithmischen Dimension ist nicht so leicht zu erklären, sie ist jedoch für das Verständnis der aktuellen Situation entscheidend. Ein Algorithmus ist eine Beschreibung des Ablaufes eines Prozesses. Ein Algorithmus kann in verschiedener Form vorliegen: Als Gedankengang (»Erst muß ich a tun, dann b, damit c rauskommt«), als schriftliche Anweisung (»Man nehme 100 Gramm Mehl, 2 Eier, ...und backe bei 200 Grad 30 Minuten«), als vergegenständlichte Ablauflogik in »Hardwareform« (z.B. das Uhrwerk einer mechanischen Uhr), als Anweisungsfolge für die Universalmaschine Computer (z.B. als Software) usw. Ein Algorithmus ist also eine strukturierte Kette von Informationen, die in einer bestimmten Umgebung einen Ablauf umgebungsgerecht beschreibt. Ein Algorithmus verkörpert damit sowohl die Bedeutung der Umgebung wie des in dieser Umgebung ablaufenden Prozesses. Ein Algorithmus verkörpert Wissen, oder deutlicher: ein Algorithmus ist eine Wissensform - was einschließt, dass nicht alles Wissen algorithmisch ist. Algorithmen haben immer mit Abläufen zu tun, es gibt neben der Sachlogik des Prozesses in der jeweiligen Umgebung also immer auch eine Zeitdimension.

Exkurs Algorithmus: Ich vertrete einen weiten Algorithmusbegriff, der formale und informale Beschreibungen einschließt. Wenn ich zum Beispiel in einem Vortrag auf die Uhr sehe und feststelle, dass ich nach Vereinbarung noch fünf Minuten Zeit habe, dann kann ich versuchen, durch Überspringen von Stellen, die Zeit einzuhalten. Ich merke aber vielleicht, dass die ZuhörerInnen sehr interessiert sind und entscheide mich, die Zeit zu überziehen, um den gesamten Inhalt darzustellen. Etc. Diese informale Selbstdiskussion kann unmöglich in eine formale Struktur gepresst werden, da die weltlichen Bedeutungen und meine Handlungsmöglichkeiten nicht begrenzt sind. Die Informatik macht es sich an dieser Stelle leicht, und schließt solche informellen Algorithmen aus, in dem sie den Algorithmus apriori als formales Konstrukt mit einer eindeutigen Syntax-Semantik-Beziehung fasst. Damit wächst aber der zu begreifende Übergang von der informalen unbegrenzten weltlichen Bedeutungsumgebung zur formalen begrenzten technischen Umgebung zu einer schier unüberwindlichen Hürde heran. Im folgenden will ich mich genau mit solchen Übergängen befassen.

Die dritte Dimension materieller Güterproduktion lässt sich nun mit dem skizzierten Algorithmusbegriff verstehen. Mit der Vergegenständlichung der Handwerkertätigkeit wurde nicht nur das bei einem bestimmten Stoffumwandlungsprozess verwendete Werkzeug samt Werkzeugumgebung auf eine Maschine übertragen - also etwa die Drehbank mit zugehörigem Werkzeug -, sondern auch die Logik des zeitlichen Ablaufes. Sachlogik und Zeitlogik sind analytisch zu trennen, auch wenn sie hier bei dem diskutierten Übergang zu industriellen Produktion gegenständlich noch in Eins fallen. Neben dem Werkzeug in seiner Umgebung wurde immer auch die Werkzeugführung durch den Handwerker in ihrer kombinierten Sach- und Zeitlogik maschinisiert. Bei einer Maschinendrehbank müssen die kombinierten Bewegungen (Rotation des Werkstück und Translation des Werkzeugs) mit den dem Werkstück angemessenen Parametern betrieben werden, da sonst das Werkstück oder das Werkzeug beschädigt wird oder der ganze Prozess gar nicht ablaufen kann etc. Diese vergegenständlichte Sach- und Zeitlogik wurde vor der maschinellen Vergegenständlichung vom tätigen Handwerker vollzogen. Das dafür nötige Wissen war vor allem Erfahrungswissen, aber auch kumuliertes Wissen, das in den Werkzeugen »steckt«. Es wird nun vorstellbar, welche ungeheueren Beschleunigungspotenzen diese Trennung von Mensch und unmittelbarem Stoffwechselprozess barg.

Die drei industriellen Revolutionen (vgl. Abb.)

Im Fokus der ersten industriellen Revolution stand die Enteignung des Handwerkers von Werkzeug und Werkzeugumgebung und die Vergegenständlichung der enteigneten Komponenten in einer Maschine - dies über viele Zwischenstufen wie der Manufaktur etc. Marx spricht hier von »vergegenständlichter Wissenskraft«, von »gesellschaftliche(m) Wissen, knowledge, (das) zur unmittelbaren Produktivkraft geworden« sei (Marx, Grundrisse, 594). Diese vergegenständlichte Wissenskraft wird nun ihrerseits der Wissenschaft unterworfen. Die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, gewannen damit ihre neue, »moderne« Funktion der Analyse des subzessiv zu zerlegenden Gegenstands und Synthese subjektunabhängiger Erkenntnisse. Das Wechselspiel von technischer Vergegenständlichung und wissenschaftlicher Aneignung gewinnt im selbstzweckhaften Prozess der Wertverwertung seine subjektlose Dynamik.

Exkurs Wertverwertung: Ich vertrete eine analytisch-wertkritische Position. Sie hebt sich kritisch vom traditionell-marxistischen mehrwertkritischen Ansatz ab, in dem sie ihre Analysen nicht primär auf die Distributionssphäre bezieht - etwa ungerechte Verteilung der produzierten Werte, Ausbeutung, Bereicherung etc. kritisiert -, sondern quasi vorgeordnet die Produktionssphäre als ein System subjektlos verselbständigter Wertproduktion analysiert. Das Adjektiv »subjektlos« trifft hier zu, obwohl es Menschen sind, die diesen Prozess betreiben. Doch die Kapitalakkumulation, die Verwertung von Wert auf zyklisch je erweiterter Stufenleiter ist nicht als Resultat eines »Bereicherungstriebes« o.dgl. begreifbar, sondern Ausdruck eines sich selbst organisierenden, selbst reproduzierenden systemischen Zusammenhangs, in dem die Handelnden individuell funktionale Rollen (Kapital und Arbeit) einnehmen. Deren immanente Handlungsmöglichkeiten sind entsprechend der je gegebenen Funktionslogik begrenzt. So ist auch Marx‘ Satz zu verstehen, wonach der Kapitalist nur »personifiziertes Kapital« ist. Eine Überschreitung der jeweiligen Rollenfunktionalität ist nur möglich, wenn der gesamte systemische Zusammenhang, also die Wertverwertung als solche, aufgehoben wird - nicht jedoch dadurch, dass die Verfügungsmöglichkeiten innerhalb des Systemzusammenhangs verschoben werden.

Die zweite industrielle Revolution ist die erste algorithmische Revolution. Stand vorher der stoffumformende Prozess selbst im Zentrum der wissenschaftlichen Bearbeitung, so nun die sach- und zeitlogische Integration aller Einzelprozesse, die schließlich die historisch überkommene handwerkliche Arbeitsteilung aufhebt:

»Dies subjektive Prinzip der Teilung fällt weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier objektiv, an und für sich betrachtet, in seine konstituierenden Phasen analysiert, und das Problem, jeden Teilprozeß auszuführen und die verschiednen Teilprozesse zu verbinden, durch technische Anwendung der Mechanik, Chemie usw. gelöst...« (Marx, 1976/1890, 401).

Der Fordismus, benannt nach dem Autohersteller Ford, führte die algorithmische Integration der Produktion konsequent durch. Augenfälligstes Resultat war das Fließband, das bald alle Wirtschaftsbereiche als »Leitbild« bestimmte. Die Integration umfasste so auch die an den Maschinen arbeitenden Menschen, die zum vollständigen Anhängsel der Maschinen wurden, in denen der von Ingenieuren vorgedachte »ideale« Algorithmus des Produktionsprozesses vergegenständlicht war. Nach den Paradigmen der Naturwissenschaft wurden die Reste von Subjektivität der arbeitenden Menschen aus der Produktion entfernt - das war das Programm der Arbeitswissenschaft von Frederick W. Taylor (1911):

»Hatte die Erste industrielle Revolution das Handwerkszeug durch ein maschinelles Aggregat ersetzt, das den fremden Selbstzweck des Kapitals an den Produzenten exekutierte und ihnen jede Gemütlichkeit austrieb, so begann nun die Zweite industrielle Revolution in Gestalt der ‘Arbeitswissenschaft’ damit, den gesamten Raum zwischen Maschinenaggregat und Produzententätigkeit mit der grellen Verhörlampe der Aufklärungsvernunft auszuleuchten, um auch noch die letzten Poren und Nischen des Produktionsprozesses zu erfassen, den ‘gläsernen Arbeiter’ zu schaffen und ihm jede Abweichung von seiner objektiv ‘möglichen’ Leistung vorzurechnen - mit einem Wort, ihn endgültig zum Roboter zu verwandeln.« (Kurz, 1999, 372).

Diese Produktionsweise basierte auf der massenhaften Herstellung gleichartiger Güter. Dem entsprachen auf der Seite der Administration die Betriebshierarchien und das Lohnsystem sowie gesamtgesellschaftlich der Sozialstaat. Dies war auch die große Zeit der organisierten Arbeiterbewegung. Ihr Bemühen um straffe Organisation, besonders in den kommunistischen Parteien, hing mit ihren Erfahrungen in der Arbeitsrealität zusammen. Eine zentrale Organisation zur Bündelung von Massen war ihr Ideal. Die einzelnen Menschen waren in der Arbeit und der politischen Organisation lediglich »Rädchen im Getriebe«.

Die dritte industrielle Revolution als zweite algorithmische Revolution bricht auf, was der Fordismus aufwendig festgelegt hat: Die algorithmische Durchrationalisierung der Produktion. Nun wird nicht mehr der geplante Produktionsablauf exakt festgelegt und in Formen von Maschinen, starrer Arbeitsorganisation und Hierarchien »gegossen«, sondern es wird die Möglichkeit der Änderbarkeit des Ablaufes, die Mannigfaltigkeit der möglichen Einsätze der Werkzeugmaschinen, die Modularität der Einheiten in der Fließfertigung in die Produktion eingebaut. Die festen Algorithmen des Fordismus werden flexibilisiert, wobei das Ausmaß der Änderbarkeit nicht unendlich ist, sondern wiederum festliegt. Wurde also vorher der Ablauf selbst festgelegt, so nun die Änderbarkeit des Ablaufes. Die Algorithmisierung wird selbst wieder algorithmisiert - eine Algorithmisierung zweiter Ordnung. Sie ist eng verbunden mit der Trennung und Vergegenständlichung des prozessualen und algorithmischen Produktionsaspekts in zwei separaten Maschinen: der Algorithmusmaschine »Computer« und der flexibel steuerbaren Prozeßmaschine. Aus der analogen Spezialmaschine, in der stoffumwandelnder Prozess und algorithmische Sach- und Zeitlogik »kurzgeschlossen« waren, werden nun zwei getrennte, aber gekoppelte Universalmaschinen: eine analoge und eine digitale. Die »Universalität« hat dabei jeweils eine unterschiedliche Reichweite:

  • Sie hängt bei der analogen Prozeßmaschine von der Antizipationsfähigkeit der Produzenten ab, denn es kann immer nur der Grad an Änderbarkeit und Modularität dargestellt werden wie aktuell als mögliche Prozeßbreite vorstellbar ist. Genuin »Neues« - seien es Erfindungen oder radikal neue Marktanforderungen - ist nicht vorhersehbar.
  • Bei der digitalen Algorithmusmaschine ist es vor allem der Stand der (hard- und software-) technischen Entwicklung, der die Einsatzmöglichkeiten begrenzt, denn die digitale Form der formalen Algorithmen ist apriori universell. Mit der Schaffung von mehrfach gestaffelten »Programmen zur Erzeugung von Programmen« kommt die grundlegende Kennzeichnung der dritten industriellen Revolution als »Algorithmisierung der Algorithmisierung« sinnlich erfahrbar auf seinen Begriff. Die Universalität der digitalen Form ist es, die zur Durchdringung nahezu aller Bereiche der gesellschaftlichen (Re-)Produktion führt. Ubiquitous Computing ist hierfür das Stichwort.

Die digitale Algorithmusmaschine, die Mikroelektronik, wird zur »Leittechnik« der dritten industriellen Revolution. Mit der analogen Vergegenständlichung des handwerklichen Erfahrungswissens fing ein Prozess an, der heute bei der digitalen Erfassung des Menschheitswissens angelangt ist.

Exkurs industrielle Revolutionen: Es ist üblich - im Unterschied zur hier vorgenommenen Einteilung -, industrielle Revolutionen über »Leittechniken« und ihre anhängenden Wissenschaften zu definieren. So ordnet Robert Kurz (1999) »Kohle und Dampfkraft« der ersten, »Verbrennungsmotor, ... Fließband und ... 'Arbeitswissenschaft'« der zweiten und »Elektronik und den 'Informationswissenschaften'« der dritten industriellen Revolution als Grundlage zu. Da es sich bei den »Leittechniken« jedoch nur um Erscheinungen des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses handelt, bleibt ihre Auswahl relativ beliebig. Hier war bereits Marx schon weiter, der erkannte, dass die »Dampfkraft« die (erste) industrielle Revolution zwar sinnlich (visuell und olfaktorisch) erfahrbar machte, dies jedoch keineswegs ihr Wesen ausmachte, sondern er erkannte, dass es »die Werkzeugmaschine ist..., wovon die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert ausgeht« (Marx 393), die erst sekundär »die revolutionierte Dampfmaschine notwendig machte« (396). Und Marx benennt auch schon ahnungsvoll den »Transmissionsmechanismus« als Kern des »automatischen Systems der Maschinerie« (402) - die dingliche Inkarnation des Algorithmus auf mechanischen Niveau. Die Abfolge industrieller Revolutionen lässt sich so als schrittweise Entsubjektivierungen menschlicher Produkionstätigkeit fassen: des Menschen als Energielieferant, Mittelnutzer und Wissensträger, wobei der Energieaspekt dem des Mittels logisch nachgeordnet und heute das »Wissen« das bestimmende Moment ist.

Das Verhältnis zwischen stoffumwandelnden Kernprozeß und gesamtgesellschaftlicher informationell-algorithmischer Vernetzung und Steuerung verschiebt sich beständig zugunsten der informationellen Seite. Es ist absehbar, dass der stoffumwandelnde Kernprozess in Zukunft genauso zu einer Residualgröße zusammenschrumpft, wie die naturale Produktion in der kapitalistischen Industriegesellschaft.

Mit zunehmender Immaterialisierung der Produktion gewinnt die Akkumulation von Wissen eine ständig größere Bedeutung. Dabei übersteigt es zunehmend die Möglichkeiten individueller Produzenten, selbst großer Konzerne, diese »Wissensproduktion« zu organisieren. Sie streben daher danach, allgemeines gesellschaftliches Wissen, »general knowledge« wie Marx es nannte, ihrem Verwertungsprozess einzuverleiben. Um dieses Wissen verwertbar zu machen, muss es gleichzeitig verknappt werden, denn es ist nur das verwertbar, was nicht allgemein zugänglich ist. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, Verfügung und Verwertung kommt hier auf seinen Begriff.

Diese Entwicklungen werden auch von kritischen Theoretikern der Warenproduktion erfasst. So beschreiben Kevin Kelly in »NetEconomy« (1999) oder Jeremy Rifkin in »Access« (2000) sehr anschaulich Tendenzen des gegenwärtigen Kapitalismus. Kelly hebt in seiner Betrachtung den selbstverstärkenden Effekt vernetzter Prozesse hervor und zeigt mit Verweis auf die zunehmende Dematerialisierung industrieller Prozesse auf, das nur Netzwerke in der Lage sind Wissen und Information im exponentiellen Ausmaß zu erzeugen. Rifkin betont darauf aufsetzend die Bedeutung des Zugangs zu diesen Netzwerken. Er prognostiziert, dass »geistiges Eigentum« zum ökonomisch bestimmenden Faktor wird. Patente, Copyrights, Warenzeichen, Betriebsgeheimnisse und Kundeninformationen seien die Mittel zur Kontrolle der ökonomischen Macht.

Beide zeigen deutlich die Tendenzen zur global vernetzen »Wissensgesellschaft« auf. Sie vermögen jedoch nicht zu erkennen, dass gerade global vernetzte Wissensakkumulation und proprietäre Beschränkung eben dieser Akkumulation in einen Widerspruch zueinander geraten. Sie können »über Information und Wissen verfügen....« nur als Resultat des Gegenteils »...über dass andere nicht verfügen« denken. Exklusionsregelungen (IPR: Intellectual Property Rights - etwa Patente, Urheberrecht etc.) verknappen Wissen bzw. die Verfügung darüber, um es verwertbar zu machen. Diese Verknappung, die Begrenzung des Zugangs zu Netzwerken, unterminiert damit gleichzeitig die Schaffung dieses Wissens.

Die freie Softwarebewegung als Keimform einer freien Gesellschaft

Die freie Softwarebewegung hat - ohne dass sie das beabsichtigte - ein Modell einer anderen Entwicklungslogik geschaffen. Dazu gehört insbesondere auch eine andere Form der globalen Wissensakkumulation. Dies war nur möglich, weil sie vier Aspekte in ihrer Entwicklung ausbildete:

  • Globale Vernetzung über das Internet
  • Individuelle Selbstentfaltung
  • Kollektive Selbstorganisation
  • Wertfreiheit

Das Internet ermöglicht die Formen globaler Vernetzung, die Kelly und Rifkin beschreiben. Freie Software konnte nicht anders entstehen als genau unter diesen Bedingungen. Das bedeutet, dass Freie Software nicht eine »Idee« ist, es einmal in der genannten Weise zu versuchen, sondern Freie Software ist die Widerspiegelung eines objektiven Entwicklungsprozesses der Produktivkräfte. Insofern ist es falsch, an die spontan entstandene Bewegung Freier Software den Maßstab einer vordergründig »politischen Bewegung« anzulegen - das ist sie nicht. Aber genau dieses Faktum - sie ist nicht politisch-idealistische Bewegung, sondern Spitze der Produktivkraftentwicklung - erlaubt es, von ihr als einer Keimform einer neuen Art der Vergesellschaftung zu sprechen.

Exkurs Keimformen (aus Meretz 2001): Keimformen eines Neuen entwickeln sich immer schon im Alten. Sie werden stärker, werden zu einer nicht mehr zu übersehenden Funktion im alten System, übernehmen dann die bestimmende Rolle und transformieren schließlich das alte Gesamtsystem in ein Neues, in dem sich alles nun nach der neuen dominanten Funktion ausrichtet. Dieser beschriebene Prozeßablauf ist typisch für dialektische Entwicklungsprozesse. In allgemeiner Form kann man fünf Stufen für qualitative Entwicklungssprünge so beschreiben (Holzkamp 1983):

Stufe 1: Entstehen der neuen Keimformen, die sich später entfalten
Stufe 2: Veränderung der Rahmenbedingungen des alten dominanten Gesamtprozesses (»Krisen«)
Stufe 3: Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen Entwicklungsdimension neben der noch den Gesamtprozeß bestimmenden Funktion (erster Qualitätssprung)
Stufe 4: Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)
Stufe 5: Umstrukturierung des Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der neuen bestimmenden Entwicklungsdimension

Damit ist klar, was eine Keimform nicht ist: Sie ist nicht schon das Neue selbst, nur sozusagen im Kleinformat. Sie ist auch nicht eine Art kondensiertes Neues, das alle Potenzen schon enthält und nur noch wachsen muss (weswegen die bloße Rede vom »Keim« irreführend ist). Keimformen sind frühe Erscheinungen eines sich im Alten herausbildenden prinzipiell mit dem bestehenden System unverträglichen neuen Prinzips, das als solches notwendig nur in Sonderräumen existieren kann (Stufe 1). Nur unter den Bedingungen einer sich ändernden systemischen Umgebung, einer Krise des alten dominanten Prinzips der Systemerhaltung (Stufe 2), können sie eine neue Funktionalität erlangen und aus den Nischen heraustreten (Stufe 3). Altes und neues Prinzip gehen hier in einen offenen Schlagabtausch über. Ob das Neue sich durchsetzt, ist ungewiss. Nur wenn sich das neue Prinzip als real überlegen ausbilden kann, kann es das alte Prinzip als Kern der Systemerhaltung ablösen. Ist dieser Schritt vollzogen und gibt es systemisch keine Möglichkeit der Rückentwicklung mehr, dann ist der Dominanzwechsel vollzogen (Schritt 4). Im Zug der Durchsetzung erfolgt im zunehmenden Maße ein Umbau der Systemstruktur auf die Logik des neuen Entwicklungsprinzip hin. Durchsetzung und Systemumbau etablieren sich als wechselseitige, sich gegenseitig stabilisierende Prozesse (Stufe 5) - bis zu neuen Keimformen und Systemkrisen auf dem erreichten neuen Entwicklungsniveau.

Dialektische Entwicklungsprozesse lassen sich vollständig stets nur rückwirkend verstehen und als Fünfschritt rekonstruieren (etwa die Durchsetzung des Kapitalismus). Prospektiv sind mit dem Fünfschritt aber den Blick schärfende Verallgemeinerungen gegeben, um Entwicklungstendenzen frühzeitig als richtungsbestimmend zu registrieren. Auch damit kann man falsch liegen, denn Keimformen können auch zunichte gemacht werden - erst in Praxis erweist sich eine Theorie als haltbar oder nicht. Genau das gilt es permanent zu prüfen.

Oder um es anders zu formulieren: Die freie Softwarebewegung ist Keimform einer freien Vergesellschaftung »an sich« - aber (noch) nicht »für sich«. Der Keimform-Charakter kommt ihr also unabhängig von der Tatsache zu, ob sie sich verallgemeinern und damit durchsetzen kann. Mehr noch: Er kommt ihr auch dann zu, wenn niemand es erkennt, sie sich aber retrospektiv faktisch als qualitativ erster Anfang auf dem Weg in der freie Vergesellschaftungsform erweist. Das können wir heute natürlich noch nicht wissen, aber der Sinn der Keimform-Kategorie ist es, den analytischen Blick zu schärfen und den Streit darum zu führen, welches die wesentlichen Elemente einer neuen Vergesellschaftung sind und welche Schritte auf dem Weg dorthin zu gehen sind. So gesehen geht es am Gegenstand vorbei, gegen die Vertreter der Keimformhypothese (wie mich) mit dem (angeblich fehlenden) Bewußtsein der beteiligten Akteure oder mit deren Versuchen zu argumentieren, Freie Software in die Wertvergesellschaftung zu reintegrieren. Ohne Frage ist es notwendig, dass sich die freie Softwarebewegung als solche und als Keimform einer freien Vergesellschaftung nur behauptet, wenn sie den Schritt vom »an sich« zum »für sich« auch geht - und dafür gibt es keine Garantie.

Fazit

Die Wissensakkumulation ist nicht die entscheidende Widerspruchsdimension, die die weitere Entwicklung bestimmt - im wesentlichen aus zwei Gründen: zum einen sind die Möglichkeiten der proprietären Wissensakkumulation noch beträchtlich, und zum anderen überlagern die (Selbst-)Widersprüche der Wertproduktion und Produktivkraftentwicklung die der Wissensakkumulation. Es ist nicht ausreichend, die freie Softwarebewegung als bloße Bewegung freier Wissensproduktion zu analysieren und sie etwa zu vergleichen mit dem (ideal als frei gedachten) Wissenschaftsprozeß. Sie produziert Software und damit auch eine Form von Wissen, und hier legt sie sich mit der freien Form die Grundlagen unbegrenzter Wissensakkumulation, doch entscheidend ist der neue Typ der Produktivkraftentwicklung, der auf Selbstentfaltung, Selbstorganisation, globaler Kooperation und Wertfreiheit basiert. Hier werden sich die Widersprüche weiter zuspitzen, hier liegt der Keimformcharakter der freien Softwarebewegung. Ob sie sich weiter entfalten und durchsetzen kann, oder dem Kapitalismus die Reintegration in die Wertverwertung gelingt, ist nicht ausgemacht.

Literatur

Gruppe Gegenbilder (2000), Freie Menschen in freien Vereinbarungen, Saasen: Eigenverlag, Internet: www.opentheory.org/gegenbilder.

Holzkamp, K. (1983), Grundlegung der Psychologie, Frankfurt am Main: Campus.

Kelly, K. (1999), NetEconomy. Zehn radikale Strategien für die Wirtschaft der Zukunft, München/Düsseldorf: Econ.

Kurz, R. (1995), Die Himmelfahrt des Geldes, in: Krisis 16/17, Bad Honnef: Horlemann.

Kurz, R. (1999), Schwarzbuch Kapitalismus, Frankfurt am Main: Eichborn.

Meretz, S. (2001), Produktivkraftentwicklung und Aufhebung. Die »Keimform-Hypothese« im Diskurs, in: Streifzüge 2/2001, Wien: Eigenverlag, Internet: www.opentheory.org/keimformdiskurs.

Meretz, S., Schlemm, A. (2000), Subjektivität, Selbstentfaltung und Selbstorganisation, Internet: www.kritische-informatik.de/selbstl.htm

Rifkin, J. (2000), Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt am Main/New York: Campus.

Anmerkungen

[1] Hiermit beziehe ich mich auf den Marxschen Begriff der »Ware« - nicht zu verwechseln mit »Produkt« oder »Gut«. Damit sind auch die vergangenen sozialistischen Länder mit gemeint.

[2] Hier verweise ich auf Arbeiten der Krisis-Gruppe, etwa: Kurz (1995).

[3] Ausführlicher zum Thema »Produktivkraftentwicklung« und zum Widerspruch von Selbstentfaltung und Selbstverwertung vgl. Meretz/Schlemm (2000).

[4] Mehr zum Verhältnis von Entwicklungslogik und Vorwegahnung vgl. Gruppe Gegenbilder (2000).

[5] Das erkannte bereits Marx. Er sprach von drei Maschinen als Teil der entwickelten Maschinerie: Bewegungsmaschine (Energie), Werkzeugmaschine (Prozess) und Transmissionsmechanismus (Algorithmus).

[6] Den Begriff »Maschine« verwende ich im folgenden in einem allgemeineren Sinne: Es ist das technische Aggregat allgemeiner Prozesse - seien es mechanische, chemische, biotische, informatische oder andere Stoffumwandlungs-, Energie- oder Steuerprozesse.